Das richtige Maß

Trotzdem ich mich seit Jahren darum bemühe, für so ziemlich alles in meinem Leben “das richtige Maß” – ein gesundes Maß – zu finden, bin ich ziemlich radikal. Getreu dem Motto Ganz oder gar nicht bewege ich mich dabei von einem Extrem ins nächste. Dabei ist es doch ziemlich offensichtlich, dass das Optimum meist dazwischen liegt. Warum schaffe ich das nur nie?

Schon Aristoteles lehrte, dass man sich bei der Suche nach Tugenden die gedachte Mitte zwischen zwei Extremen suchen soll. Letztere könnten beispielsweise Verschwendung und Geiz sein. Gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang Großzügigkeit als entsprechende Tugend genannt, was auf den ersten Blick auch plausibel erscheint.

Denken wir aber einen Schritt weiter: Könnte nicht – insbesondere in Hinblick auf Nachhaltigkeit, bewussten Konsum und ein einfaches Leben –auch Sparsamkeit eine Tugend für diese beiden Extreme sein? Das macht mir recht deutlich, dass es kein allgemein gültiges “Gut” für alle Menschen gibt. (Der Meinung war Aristoteles übrigens auch schon.) Entsprechend habe ich kurz nach meiner Mündigkeit viel Gelerntes in Frage gestellt und bin in der Folge von einem Extrem zum anderen gewechselt.

Paradebeispiele

Fleisch, Alkoholika Süßigkeiten, Plastik, soziale Netzwerke – allesamt hatte ich einst unbedacht und in großen Menge konsumiert. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann läuft mir dabei ein Schauer über den Rücken, weil keine dieser Gewohnheiten gesund für mich war. Um dem entgegenzuwirken, habe ich mich einer gesellschaftlichen Konvention nach der anderen entgegengestellt und radikal abgelehnt:

Erst während meiner Studienjahre begann ich, mich mit meiner Ernährung auseinanderzusetzen und habe anstelle von mehrmals täglich Fleisch und Süßkram beide komplett von meinem Speiseplan gestrichen. Während ich während meiner Jugend größere Mengen Alkohol gut vertragen konnte, ekelt mich die allgemeine Akzeptanz dieser Droge im Vergleich mit anderen heute an. Ebenso akzeptiert sind Plastik und soziale Netzwerke. Keine von beidem wollte ich in meinem Leben haben und habe sie lange Zeit komplett gestrichen.

Extrem? – Nein, konsequent.

Eine wiederkehrende Problematik sind dabei stets Ausnahmereglungen gewesen. Ich persönlich halte nichts von festgelegten Cheat Days. Und wenn ich bei jedem Geburtstag und sonstigen Anlässen eine Ausnahme machen würde, könnte ich es auch gleich bleiben lassen. Entsprechend habe ich mir angewöhnt, es einfach strikt durchzuziehen und erntete damit bereits einigen Spott. Doch seien wir mal ehrlich:

Auch kleine Mengen Alkohol sind bereits schädlich. Warum also Ausnahmen machen und sich selbst Schaden zufügen? Auch wenn ich nur kleine Menge Fleisch esse, landet dafür ein ganzes Tier auf der Schlachtbank. Warum also ab und zu doch Fleisch essen, wenn ich auch problemlos ohne leben kann? Wieso doch ab und zu auf raffinierten Zucker zurückgreifen, wenn ich mit ganzen Früchten am besten lebe? Weshalb sollte ich mich der Plastikindustrie beugen und ausnahmsweise Ja, bitte! statt Nein, danke! sagen, wo ich doch genau weiß, dass jedes kleine Stückchen Plastik am Ende wieder in der Natur landen wird? Wozu sozialen Medien meine Aufmerksamkeit schenken, wenn ich keinen Mehrwert daraus ziehe?

Wiederkehrend wurde ich dafür als extrem bezeichnet, dabei ist es in meinen Augen vor allem konsequent und radikal. Ehrlich gesagt ist es so sogar einfacher für mich, denn dann muss ich mich nicht rechtfertigen, wenn ich zur Abwechslung mal eine Ausnahme mache und alle annehmen, ich wäre jetzt wieder “wie sie”. Und freilich ist es als ausstehende Person nicht leicht nachzuvollziehen, wann ich Ausnahmen erlaube und wann nicht.

Mehr Moderation

Trotzdem gibt es sie weiterhin, diese Ausnahmen. Wenn ich fälschlicher Weise Fleisch im Restaurant serviert bekomme, esse ich es eben doch, denn ich finde es wesentlich schlimmer, ein Tier zu töten und dann wegzuwerfen, anstatt es zu essen. Es ist mir immer noch unangenehm, wenn ich Gastgebenden Mehraufwand bereite, weil sie es mir und meiner “Diät” recht machen wollen. Auf Reisen probiere ich gern Neues, auch wenn es Zucker enthält. Für manche Naschereien hat sich noch keine zuckerfreie Alternativrezeptur erprobt und etliche Dinge bekomme ich (noch) nicht plastikfrei (Grauplastik sei “Dank”) und konsumiere sie dennoch. Neulich habe ich sogar ein Bier getrunken – mit Alkohol. Und es hat mir geschmeckt!

Allein das ist allerdings eine Ausnahme für sich. Oft stelle ich nämlich im Nachhinein fest, dass sie es nicht wert war und ärgere mich darüber. Eigentlich sollte eine Ausnahme doch als positive Erinnerung erhalten bleiben, oder? Woher kommt also der Ärger?

Wenn ich ganz tief in mich hineinhorche, weiß ich, dass es nicht ausschließlich an meinem Streben nach Gesundheit sondern Ausgeglichenheit liegt. Ich möchte nicht nur gesund leben, sondern beständig gesund leben. Alkohol, Fleisch, Industrieller Zucker, Plastik, soziale Medien – sie alle beeinträchtigen sowohl meine Gesundheit als auch mein Wohlbefinden. Allerdings bemühe ich mich so stark darum, sie aus meinem Leben rauszuhalten, dass mich das womöglich sogar stärker beeinträchtigt, als wenn ich sie ab und an zulassen würde.

Das betrifft übrigens auch mein Zeitmanagement: Ich möchte funktionieren und auf Knopfdruck kreativ arbeiten und entspannen können. So funktioniert das allerdings nicht. An manchen Tagen, komme ich einfach nicht in die Gänge.

Vorbild Natur

Nicht nur ich, sogar ein Großteil der Menschheit strebt nach Gleichmäßigkeit und dabei stellen wir uns oft eine gerade Linie in einem Graphen vor. Gleichmäßigkeit kann aber auch ganz anders aussehen und sich in Form einer Wellenlinie mit unterschiedlich starken Ausschlägen präsentieren, die im Mittel immer noch denselben Wert repräsentiert, wenn wir den Verlauf nur mit ausreichend Abstand betrachten.

In der Natur sei alles im Gleichgewicht, heißt es oft. Das stimmt auch, jedoch bedeutet es nicht, dass alles gleichbleibend ist. Mal gibt es mehr Antilopen als Löwen, dann haben letztere ausreichend zu essen und können mehr Nachkommen zeugen, bis es nicht mehr genügend Antilopen gibt. In der Folge geht der Löwenbestand wieder zurück, weshalb sich die Antilopenpopulation erholen kann. Was von Nahem wie ein einziges Auf und Ab wirkt, offenbart sich erst mit der nötigen Distanz als Beständigkeit.

Stellen wir uns eine Kurve vor, die meine Produktivität (Wie viel von meinem Arbeitspensum “schaffe” ich?) über eine Zeitspanne von einer Woche repräsentiert. In meiner utopischen Wunschvorstellung wäre das eine Gerade bei der 100%-Marke. Die Realität sieht oft anders aus und dümpelt eher meist eher im niedrigen, zweistelligen Bereich. Dann kann so ein Blick auf eine Woche schon deprimierend sein. Es gibt aber auch Zeiträume, an denen ich ich weit über die 100% hinauswachse und wesentlich mehr schaffe, als ich theoretisch an einem Tag müsste. Die erfasse ich aber womöglich erst, wenn ich mir den gesamten Monat oder gar längere Zeiträume anschaue, um zu merken: Im Schnitt schaffe ich, was ich mir vornehme. Und: In Relation zu meiner Jugend ernähre ich mich immer noch wesentlich gesünder, verwende wesentlich weniger Plastik und hänge quasi kaum noch in sozialen Netzwerken herum.

Druck rausnehmen

Auf der Suche nach dem richtigen Maß und dem Streben danach, kommt der meiste Druck von mir selbst. Im Grunde sagt mir niemand sonst, wie ich zu leben habe. (Tatsächlich passiert das schon, aber wer hat schon das Recht dazu?) Trotzdem versuche ich mich immer wieder an Systemen, um mein Leben “unter Kontrolle” zu bekommen und alles zu tracken. Doch wer – außer mir – beurteilt denn, wann mein Leben außer Kontrolle ist?

Die meisten Ziele stecke ich mir. Deshalb liegt es auch an mir, den mir selbst auferlegten Druck herunterzunehmen, innezuhalten und auf Abstand zu gehen, wenn ich mal wieder den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann.

Wie gehst du mit “dem richtigen Maß” um? Pendelst du auch zwischen den Extremen oder lässt du die einfach links liegen und lebst in den Tag hinein?

Alles Liebe,

Philipp

2 Kommentare

Antworten

  1. Hallo Philipp,

    “allerdings bemühe ich mich so stark darum, sie aus meinem Leben herauszuhalten, sodass … ” den Satz musste ich jetzt mal abfotografieren für mich privat. “Wenn ich das ab und zu zulasse” und genieße, das ist auch meine Strategie. Nur so kann ich lange kein Fleisch, Zucker essen. Und hoffentlich kriege ich auch mit genau dieser Strategie das Haarereißen in den Griff. Bzw. ja gerade n i c h t in den Griff. :)
    Verbote sind verboten. Ich kann aber ich will nicht, ist für mich besser. Also ich hatte jetzt auch einen Schreibflow und war ein paar Tage am tippen. Dann nutze ich das auch. Jetzt ebbt es wieder ab. Unterm Strich, weil ich jetzt wieder chille, habe ich wohl auch so eine zackige Linie wie du. :)

    Ganz liebe Grüße,
    Tanja

    • Hallo Tanja,

      schön von dir zu lesen! :)

      Ich bin an sich auch recht gut im Komplettverzicht, allerdings spielt da stets eine soziale Komponente mit – sei es bei Fleisch, Zucker, Alkohol oder eben auch Social Media. Dann ist die Frage, wie stark das eigene Bedürfnis ist, sich dem sozialen Gefüge unterzuordnen und anzupassen. Was das Haarereißen anbelangt stelle ich mir das tatsächlich schwieriger vor, denn ich empfinde es oft leichter, mich sozialen Strukturen zu entsagen, als meinen inneren Bedürfnissen. Und so hört sich das Haarereißen bei dir für mich an. Aber vielleicht liege ich damit auch falsch.

      An sich zwingt mich beispielsweise niemand, genau zu kontrollieren, wie ich lebe, mich ernähre, auf mich achte und wann ich produktiv bin. Aber ich möchte es selbst. Auf Knopfdruck von Chill- zu Kreativ- zu Produktivitätsmodus wechseln können. Das wär’s doch, oder? So funktioniere ich aber nicht. ;)

      “Ich kann, aber ich will nicht.” – Den Spruch mag ich! Vielen Dank dafür!

      Lieber Gruß,
      Philipp

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