Heute vor einem Jahr hat das brutalste antisemitische Verbrechen seit dem Holocaust stattgefunden. Seitdem steht der Nahe Osten nahezu täglich im Fokus der Nachrichten – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Im Sommer war ich da – aus familiären Gründen: Meine Quasi-Schwiegermutter wurde 60. Dieses Jubiläum zu feiern, fühlte sich wirklich seltsam an, auch wenn es den Spagat, den Israels Bevölkerung seit Jahrzehnten im Alltag praktiziert, nicht besser beschreiben könnte: Trauma auf der einen Seite, Lebenslust auf der anderen, denn eine wirkliche Wahl hat man nicht.
Dass diese Reise nach Tel Aviv anders als sonst werden würde, zeichnet sich bereits beim Verlassen des Flugzeuges vom Gangway ab. Der Kapitän meldet sich zu Wort; nicht etwa, um die übliche Flugroute anzukündigen, sondern, um auf die furchtbare Lage aufmerksam zu machen: “234 Tage sind vergangen, seitdem die Terrororganisation Hamas Israel überfallen, 1200 Menschen getötet und 250 Menschen, darunter Babys, Kinder, Senioren und Frauen, entführt, gefoltert und vergewaltigt haben. Noch immer sind 124 von ihnen in der Gewalt der Hamas.”
Dies setzt sich nicht nur am Flughafen, sondern während des gesamten Aufenthalts in Israel fort:
- Bereits direkt nach dem Verlassen des Flugzeuges ist der Weg mit den Fotos und Namen der Opfer gezäumt.
- Eine Installation mit militärischen Erkennungsmarken erinnert an die Verstorbenen.
- Autos sind mit gelben Schlaufen und Seitenspiegelhüllen versehen. In den Fenstern der Autos hängen Fotos der Geiseln.
- Plakate und Werbetafeln überall machen auf die Lage der Geiseln aufmerksam.
- Die meisten Geschäfte nutzen ihre Schaufenster, um den Opfern zu gedenken.
- Öffentliche Plätze wie der Dizengoff Square mit seinem unverkennbaren Springbrunnen sind mit Fotos, Kerzen und Kondolenzschreiben übersät.
- Auch unscheinbare Ecken wie Baustellen werden für Installationen mit riesigen Plüschtieren verwendet, die blutige Wunden tragen.
- Die meisten Israelis tragen solidarisch gelbe Schlaufen oder militärische Erkennungsmarken mit der Kernbotschaft, die auch Fenster, Straßenlaternen, Schilder, Gebäudefassaden, Straßen und jegliche freie Fläche trägt: BRING THEM HOME – NOW!
Im Zentrum der Stadt wurde den Opfern eigens ein Platz gewidmet. Dort befindet sich eine Installation mit einer langen Tafel, die für das jüdische Hochfest Pessach eingedeckt wurde. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar: Der Tisch wirkt wie aus Beton und von Staub bedeckt – so wie die Tunnel, in die Opfer verschleppt wurden. Vor Ort kann man besagte gelbe Schleifen und Anhänger erwerben, um das Hostages and Missing Families Forum zu unterstützen, das sich unermüdliche für die Rückkehr der übrigen Geiseln einsetzt.
Wer bei militärischen Erkennunsmarken Sorge vor eskalierendem Militarismus hat, sei beruhigt. Denn die Organisation dahinter ist tatsächlich eine regierungskritische und setzt auf Verhandlungen: Ja, die Geiseln sollen nach Hause gebracht werden. Dass dies mit militärischen Mitteln geschehen soll, wird in keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: Die Organisation und Teilnehmende der andauernden Demonstrationen, die zumeist am Wochenende in den Nachrichten erscheinen, demonstrieren entschlossen gegen Netanyahus Politik und fordern einen Geiseldeal.
Parallel bemühen sich alle darum, Alltag weiterzuleben – sofern das denn geht. Hunderttausende wurden in die Reserve einberufen. Viele Geschäfte straucheln, weil ihnen die Angestellten fehlen. Das Land gerät in eine Starre, auch wenn der erste Schock überwunden sein mag. Gleichermaßen bemühen sich alle darum, sich nicht in eine depressive Spirale ziehen zu lassen. Israelis sind geübt darin, der ständigen Bedrohung ihre Lust auf Leben und Überleben entgegenzusetzen. Auch in düsteren Zeiten wird jeder Anlass zur Freude anerkannt und gefeiert – so gut es eben geht, während 60 Kilometer entfernt Krieg stattfindet.
Denn der Allgegenwärtigkeit des Konflikts kann man nicht entkommen. Das zeigt sich schon in kleinen Momenten; etwa beim Nutzen von Kartendiensten, die plötzlich anzeigen, dass man sich am Flughafen in Beirut befindet. Dahinter verbirgt sich ein taktisches Manöver der Israelischen Armee: Sie manipulieren GPS-Daten, sodass auf Israel abgefeuerte Raketen, die GPS verwenden, fernab der Landesgrenzen einschlagen. Oder im Einkaufszentrum, wo Schilder aufgehangen wurden, die Touris anweisen, bei Raketenalarm den Israelis zu folgen, weil die am besten wissen, was zu tun ist.
Das bringt mich zu einer grundlegenden Frage, die ich wiederkehrend gestellt bekomme: Hat man Angst, wenn man in Israel ist?
Meine Antwort dazu lautet nach wie vor Nein.
Das hat verschiedene Gründe:
- Israel verfügt im Gegensatz zu den übrigen Ländern über ein ausgezeichnetes Verteidigungssystem. Das der 07. Oktober 2023 passiert ist, hängt sicherlich nicht mit dem Verteidigungssystem, sondern menschlichem Versagen zusammen. Doch auch, wenn Israel wiederkehrend Opfer aufgrund von Angriffen zu vermelden hat, fallen diese wesentlich geringer aus als im Gazastreifen und im Libanon, weil Israel Technologie zur Verteidigung der eigenen Bevölkerung einsetzt.
- In Israel weiß die Bevölkerung, was in Notfällen zu tun ist. Diesen Eindruck bekomme ich in Europa nicht. Und ehrlich gesagt bin ich doch sehr verwundert darüber, wie Deutschland sich um die Opfer kümmert, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.
- Obwohl ich selbst nicht jüdisch bin, fühle ich mich in Berlin seit dem 07.10.2023 häufiger nicht sicher. Denn obwohl antisemitische Anfeindungen nicht mir persönlich gelten, erzeugen sie ein aggressives Klima, das uns alle betrifft.
Der Nahe Osten mag sich gar nicht so nah anfühlen, aber der Nahostkonflikt geht uns dann doch alle an – auch wenn wir nicht alle Familie und Freunde vor Ort haben. Sehr wahrscheinlich gibt es Menschen in deinem Umfeld, die direkt oder indirekt betroffen sind. Bitte bring Empathie für sie auf – unabhängig von der Nationalität. Sich um geliebte Menschen zu sorgen oder gar zu trauern, ist nie einfach.
Zum Ende unseres Aufenthalts gibt es dann doch noch eine erfreuliche Nachricht: Die Israelischen Streikräfte haben vier Geiseln aus dem Gazastreifen befreit. Das wird sogar direkt am Strand von den Rettungsschwimmern per Lautsprecher durchgesagt, sodass der gesamte Strand jubelt. Klar möchte ich mich freuen, aber so richtig gelingt es nicht. Denn es bleiben Fragen in meinem Kopf hängen: Zu welchem Preis wurden die vier Geiseln gerettet? Und wie steht es um die übrigen Geiseln?
Ehe ich mich versehe, befinde ich mich in Gedankenspiralen, wieso wir eigentlich permanent Leben quantifizieren und gegenüberstellen, als wären manche Leben mehr wert als andere. Stattdessen könnten wir auch deutlich sagen, wie es ist: Gewalt und Krieg sind Mist – für alle Betroffenen.
Das letzte Jahr hat mir noch einmal deutlicher vor Augen geführt, an wie vielen Stellen zweierlei Maß angelegt wird. Aber auch, wie fragil und schützenswert Demokratien sind. In Demokratien sollte man auch diskutieren können. Oft vermisse ich dabei jegliche menschliche Empathie, die sich zwischen binären Grundsätzen zerreibt. Ist es wirklich so schwer, anzuerkennen, dass Menschen auf beiden Seiten leiden und keines mehr aufwiegt als das andere? Die Welt ist nicht schwarz-weiß!