Lohnt sich Interrail noch?

Diese Woche endete der alljährliche, aber dennoch unregelmäßige Frühjahrs-Sale bei Interrail. Während meine Laune beim Gedanken an das Interrail-Ticket allem voran sehr nostalgisch wird, kann man das Interrail-Ticket natürlich auch einfach als das betrachten, was es im Kern ist: Eine hochpreisige Zugfahrkarte. Oft genug kommt bei meinen Reiseberichten die Frage auf, ob sich das Ticket gelohnt hat. Da gerate auch ich jedes Mal wieder ins Grübeln: Kaufen oder nicht? Deshalb schaue ich heute – all meinen positiven Gefühlen zum Trotz – einmal genauer drauf.

Vorab möchte ich jedoch warnen: Eine pauschale, allgemeingültige Antwort darauf habe ich nicht. Unabhängig davon, wage ich eine Empfehlung für verschiedene Erwartungshaltungen und Reisetypen.

Erfahrungswerte

Das Interrail-Ticket habe ich bereits in einigen Konstellationen genutzt:

  • 2007 bei meiner ersten eigenen Reise nach London, Paris, Marseilles und Straßburg in elf Tagen
  • 2012 bei meiner einmonatigen Reise nach Großbritannien
  • 2022 bei meiner elftägigen Reise in Italien
  • 2023 bei meiner einmonatigen Reise nach Portugal und zurück

Dass ich das Angebot zwischendurch zehn Jahre lang gar nicht genutzt habe, liegt vor allem daran, dass ich zwischen 2014 und 2019 jede Möglichkeit genutzt habe, nach Israel zu reisen, nicht am Ticket selbst. Abgesehen davon hat sich das Angebot nicht nur im preislichen Rahmen (alle wird teurer, das Interrail-Ticket insbesondere im Alter von 28 bis 59 Jahren), sondern auch bei der Umsetzung stark geändert. So gab es 2007 noch ganz andere Regeln als heute (man denke nur an die beliebte 19:00-Uhr-Regel, um Reisetagen zu sparen) und man musste in ein Ticket händisch die Reisetage eintragen. Mittlerweile läuft das alles digital und intuitiv in einer eigenen App.

Welche Pässe gibt es?

Prinzipiell gibt verschiedene Interrail-Tickets für verschiedene Bedürfnisse. Grob unterteilen kann man sie in die Global Passes und die One Country Passes. Während man mit ersteren in allen teilnehmenden Ländern reisen kann, gelten letztere – wie es der Name schon suggeriert – lediglich in einem Land. Dafür sind sie auch erschwinglicher. Allerdings muss man sich noch darum kümmern, wie man in das Land selbst gelangt. Oft helfen hier die Europa-Spezial-Preise der teilnehmenden Bahngesellschaften.

Weiterhin kann man unterscheiden zwischen den Pässen, in denen man jeden Tag als Reisetag nutzen darf (Continuous Pass) und jenen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine begrenzte Anzahl an Reisetagen erlauben (Flexi Pass). Ersteres habe ich bis dato noch nie genutzt, weil ich mich nicht jeden Tag an einen anderen Ort reisen sehe, sondern gern auch an Orten verweile.

2007 nutzten mein Cousin und ich einen Global Pass für fünf Reisetage innerhalb von zehn Tagen. Das genügte uns anno dazumal. Heute reise ich wesentlich langsamer und würde entsprechend großzügigere Zeiträume wählen. Interrail hat sich dahingehend angepasst und bietet alle Flexi-Pässe unabhängig von der Anzahl der Reisetage für die Dauer von einem Monat oder sogar mehreren Monaten an. Das kann man ausreizen, muss aber natürlich nicht.

Erwartungen

Die Frage, ob sich ein Interrail-Ticket lohnt, würde ich prinzipiell mit Ja beantworten. Allerdings spielen die individuellen Erwartungen und Kriterien eine wesentliche Rolle. Da ich…

… gern langsam reise,
… dabei ökologisch möglichst nachhaltig sein möchte,
… das Prozedere an Flughäfen und die Rahmenbedingungen von Flügen nicht ausstehen kann,
… nicht gern Auto fahre,
… aber nicht immer ausreichend Zeit dafür habe, alle Strecken zu Fuß zurückzulegen,

… sind Züge für mich das ideale Transportmittel.

Gleichermaßen bin ich mir bewusst, dass es nicht immer das Transportmittel der Wahl aller anderen ist und sie ihre Gründe dafür haben. Auch möchte ich betonen, dass wir zunächst einmal definieren sollten, was eigentlich genau gemeint ist, wenn es darum geht, ob sich das Interrail-Ticket lohnt oder nicht. Lohnt es sich finanziell oder lohnt es sich der Erfahrung wegen? Darin sehe ich zwei verschiedene Paar Schuhe. In beiden Fällen lohnt es sich nicht immer.

Wann lohnt sich Interrail finaziell?

Betrachtet man das Ticket finanziell, steht dem entgegen, dass man ja auch alle Fahrten einzeln buchen könnte. Hierbei steht dann die Frage im Raum, wie flexibel man bei der Reiseplanung unterwegs sein möchte. Außerdem benötigt man für die meisten internationalen Bahngesellschaften Reservierungen für Züge des Fernverkehrs – auch mit Interrail. Die sind zwar schneller, kosten aber je nach Land teilweise noch mal zusätzlich. Gleichzeitig geht mit der Reservierung ein Teil der Flexibilität verloren, jeden Tag neu entscheiden zu können, ob man nun fährt oder noch bleibt.

Aus finanzieller Sicht empfehle ich Interrail-Tickets deshalb vor allem dann, wenn man:

  • viel Strecke zurücklegen möchte
  • unterwegs an vielen Orten anhalten möchte
  • nicht auf Fernverkehrszüge angewiesen ist
  • viel Zeit mitbringt

Insbesondere der letzte Punkt macht deutlich, dass sich ein Interrail-Ticket finanziell erst so richtig rechnet, wenn man möglichst lang unterwegs ist. 2022 verbrauchte ich beispielsweise nur die Hälfte meiner vier Reisetage, weil ich aus Gründen mehrfach meine Reisepläne änderte und länger an Orten verweilte, weil es mir dort so gut gefiel. Letztlich hätte ich die Strecke also auch kostengünstiger zurücklegen können. Gleichermaßen bot sich mir so ein maximales Maß an Flexibilität.

Wann lohnt sich Interrail als Erfahrung?

Deshalb möchte ich den Blick noch auf den Aspekt der Erfahrung lenken: Reisen in Zügen sind so viel entspannter als in einem Flugzeug. Keine Warteschlagen an Flughäfen, man sitzt nicht wie Hühner auf einer Stange, kann sich unterwegs die Beine vertreten, hat keine Probleme mit dem Druckausgleich, bekommt mit, wie sich die Landschaft verändert und kann unterwegs Spiele spielen, lesen und sich richtig gut unterhalten. (Zumindest mir gelingt das in Flugzeugen nie, weil ich meist einschlafe und dann mit furchtbar steifem Nacken erwache, wenn zur Landung angesetzt wird.) Durch Umstiege und Halte unterwegs stößt man auf Regionen, Landschaften und Städte, die einem aus der Vogelperspektive komplett entgangen wären. Und schließlich kann man stets vom Stadtzentrum aus starten und kommt auch dort an, statt irgendwo jwd.

In puncto Erfahrungswert empfehle ich Interrail-Tickets also, wenn man:

  • unterwegs spontan die Möglichkeit haben möchte, die Reiseroute zu ändern
  • möglichst viel von Land und Leuten sehen möchte
  • vom Flughafenprotokoll die Nase voll hat
  • ausreichend Zeit mitbringt (Zwei Wochen aufwärts empfehle ich schon!)

Wie viel Zeit brauche ich?

Aufmerksam Lesenden dürfte aufgefallen sein, dass ich den zeitlichen Aspekt mehrfach anspreche. Das liegt einerseits daran, dass es meiner Erfahrung nach bei meinem Reisetempo unter zwei Wochen keinen Sinn ergibt, ein Interrail-Ticket (Global Pass) zu nutzen, weil ich dann entweder nicht die vier Reisetage ausnutze oder an keinem Ort ausreichend verweilen werde. Stattdessen würde ich aus heutiger Perspektive eher länger an einem Ort verweilen und nur Einzelfahrten hin und zurück (und gegebenenfalls einen One Country Pass) buchen. Mit einem Monat kann man schon einiges anfangen. Bei unserer Reise nach Portugal hatte ich jedoch sogar das Gefühl, dass wir im Grunde noch mehr Zeit benötigt hätten, wenn man die Distanz berücksichtigt. Denn im Grunde wären wir überall gern eine Woche am Stück geblieben. (Und auch dafür gibt es die entsprechenden Tickets.)

Andererseits liegt es aber auch an einem Problem der europäischen Bahnen: Diese entstammen einer Zeit, als jedes Land in Europa seinen eigenen Brei gekocht hat. Entsprechend gibt es teilweise verschiedene nicht kompatible Spursysteme. Diese nötigen Fahrende auf Regionalbahnen zurückzugreifen und Orte in der Pampa Spaniens kennenzulernen. Aber auch das gehört zum Abenteuer dazu. :)

Das Problem mit den Reservierungen

Probleme gibt es zwischen den einzelnen Bahngesellschaften übrigens noch mehr: Nicht alle Länder haben nur eine dominierende Bahngesellschaft, sondern viele kleine. Die Buchungssysteme funktionieren ebenso unterschiedlich wie der Leistungsumfang mit Interrail-Ticket.

Ein prominentes Beispiel dafür sind Reservierungen. Aus Deutschland kommend, ist man es gewohnt, dass man seine Fahrkarte auch ohne Reservierung eines Sitzplatzes nutzen kann. Das führt im Zweifelsfall eben dazu, dass man zwar mitfahren darf, aber keinen Sitzplatz hat.

In anderen Ländern (beispielsweise Frankreich, Italien und Spanien) benötigt man für alle Fernverkehrszüge eine Sitzplatzreservierung und erhält diese automatisch beim Kauf einer Fahrkarte dazu. Gibt es keine Sitzplätze mehr, können hier entsprechend auch keine Fahrkarten mehr erworben werden. Das sorgt nicht nur für angenehm gefüllte Züge, sondern meines Erachtens auch für mehr Sicherheit.

Da man beim Interrail-Ticket jedoch keine individuellen Fahrten gekauft hat, sondern ein Pauschalangebot nutzt, muss man in besagten Ländern manchmal noch Reservierungen erwerben und kann ausverkaufte Verbindungen auch mit Interrail-Ticket nicht ohne Reservierung nutzen. Das geht teilweise über die App mit Gebührenzuschlag. Aus Deutschland kommend ist man gewohnt, dass das ganz entspannt im Internet beziehungsweise in der App funktioniert. In anderen Ländern ist das aber nicht immer der Fall. Stattdessen muss man sich an Schaltern anstellen, was zeitintensiv sein kann.

An dieser Stelle würde ich mir wünschen, dass die Bahngesellschaften der teilnehmenden Länder enger zusammenarbeiten. Wie schön wäre es, wenn es Deutschland das Reservierungsprinzip der anderen Länder übernehmen würde? Nie wieder überfüllte ICEs und stets ein Sitzplatz! Gleichermaßen wünschte ich, Länder wie Italien und Spanien würden die Online-Funktionalität der Deutschen Bahn übernehmen.

Tipps & Tricks

Über die Jahre hinweg haben sich zwar einige Details bei Interrail geändert, aber folgende Tipps helfen unabhängig vom genauen Regelwerk:

  1. Um bei den Reservierungen Zeit zu sparen, empfehle ich das die Websites der lokalen Bahngesellschaften. Viele verfügen über eine englischsprachige Version.
  2. Ist dies nicht möglich und/oder Geld spielt keine Rolle, kann man auch ganz bequem die Reservierungsfunktion in der App Rail Planner nutzen. Der Aufschlag hält sich in Grenzen (circa drei Euro).
  3. Funktionieren weder 1.) noch 2.), bleibt nur noch der Gang zum Schalter an einem Bahnhof des Landes. Um Zeit zu sparen, rate ich, sich an einem gewissen Punkt der Reise auf bestimmte Reisetage festzulegen und alle Reservierungen des Landes in einem Rutsch durchzuführen.
  4. Wem der finanzielle Aspekt wichtig ist, sei geraten, die Preise für Zugfahrkarten bis zu sechs Monate im Voraus zu prüfen und für die geplante Route mit den Preisen für entsprechende Interrail-Tickets abzugleichen. Die App Rail Planner hilft auch hier, unverbindlich die Route zu planen und die Kosten zu ermitteln.
  5. Oft gibt es zum Ende beziehungsweise Beginn eines Kalenderjahres Rabatte auf Interrail-Tickets, meist zwischen 10% und 20%.

Der Vollständigkeit halber, möchte ich noch die Website von Interrail verlinken. (keine bezahlte Werbung) Man kann die Tickets auch über die lokalen Bahngesellschaften erwerben, wird dann aber ohnehin auf Interrail verlinkt. Sehr nützlich finde ich auf der Website jedoch diese interaktive Streckenkarte sowie das dort verlinkte PDF, um bei der Planung einen schnellen Überblick über Fahrtzeiten zu erhalten und sich inspirieren zu lassen.

Interrail – Ein Symbiosemodell für die Zukunft?

Hoffentlich konnte ich den Eindruck einer romantischen Verklärtheit meinerseits für das Interrail-Ticket etwas abwenden. :) Unabhängig davon hoffe ich auf noch viele weitere Reisen im Zug – ob mit Interrail oder ohne.

Tatsächlich kann ich mir vorstellen, dass Interrail ein Modell für die Zukunft werden kann und es mehr Menschen einfach nur als internationales Ticket nutzen, um innerhalb Europas von A nach B zu gelangen, wenn bei allen Menschen angekommen ist, dass wir uns Flüge aus ökologischer Sicht langfristig nicht leisten können.

Darüber hinaus sehe ich in Interrail aber auch großes Potential für die nationalen Bahngesellschaften, verstärkt auf europäischer Ebene zusammenzuarbeiten und Synergien zu verstärken. Denn aktuell verfügen vor allem in Zentraleuropa viele Länder über ein hervorragend ausgebautes Netz. Was wäre erst möglich, wenn das europäische Schienennetz auch über Grenzen hinweg großartig wäre, sodass man unkompliziert von Sagres in den Osten der Türkei oder ans Nordkap reisen kann?

Bist du selbst schon mit Interrail verreist? Was verbindest du damit? Oder was hindert dich? Teile deine Erfahrungen, Tipps und Bedenken gern in den Kommentaren!

Alles Liebe
Philipp

PS: Letztlich habe ich kurz vor Ablauf des Sales noch ein Interrail-Ticket für vier Reisetage (Global Pass) erworben, ohne eine genauen Reiseplan dafür zu haben. Da ich den ersten Reisetag lediglich binnen der nächsten elf Monate antreten muss, wird sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Möglichkeit für eine Reise bieten. Jetzt habe ich zumindest noch einen Grund mehr, zumal ich für dieses Jahr noch gar keine Reise habe, bei der ich einen mir noch unbekannten Ort bereise. :P

Kann Digital Detox noch funktionieren?

Diese Woche fanden zwei – für mich – stimmungsaufhellende Ereignisse statt: Einerseits war meteorologischer Frühlingsanfang am 01. März. Bis zum kalendarischen und zugleich astronomischen Frühlingsanfang am 20. März fließt zwar noch einiges Wasser die Isar runter, aber die länger (und heller) werdenden Tage merkt man schon recht deutlich und mit Mantel, Schal, Handschuhen und Wollmütze ist es schon das eine oder andere Mal deutlich zu warm, wenn die Sonne sich zeigt. Und auch die ersten grünen Blätter und Blüten vertreiben die graue Tristesse des Winters in der Großstadt. Außerdem fand vom 01. auf den 02. März der Global Day of Unplugging statt. Die Idee dahinter: Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang einfach mal allem Digitalen den Stecker ziehen und sich auf menschliche Kontakte im echten Leben fokussieren, um die durch unseren Fokus auf digitale Unterhaltung entstandene Einsamkeit etwas entgegenzusetzen.

Tolle Idee! Allerdings befand ich mich am Freitag nach Sonnenuntergang gerade mit der Bahn auf dem Weg von Lüneburg nach Berlin und ärgerte mich kurz, dass ich das akut nicht umsetzen konnte.

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Mal wieder umziehen

Reichliche fünf Jahre ist es her, dass ich nach Berlin gezogen bin. Sehr gut erinnere mich noch daran, wie es beim Besuch des hiesigen Minimalismus-Stammtisches hieß, dass es das dann wohl gewesen sei mit dem nomadischen Leben. 

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Der Ziel-Rapport 2024

Zum Jahreswechsel schaue ich unter anderem auf meine gesteckten Ziele, um zu sehen, was gut geklappt hat und wo ich nachbessern möchte. Manchmal erledigen sich Ziele auch von selbst, weil sie mir nicht mehr wichtig sind. Was soll ich sagen: Das Jahr lief – für mich persönlich unter Auslassung des Weltgeschehens – großartig!

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Handverlesen in 2023

Im Grunde konnte es nach 2022 nur besser werden. Und siehe da: 2023 erwies sich – zumindest für mich persönlich – als hervorragendes Jahr. Hier kommen sie also: Meine emotionalen Höhe- und Tiefpunkte des letzten Jahres!

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Das Jahr ausklingen lassen

So oft habe ich mir gewünscht, das Jahresende ganz entspannt zu verbringen, statt bis zum letzten Tag von einem Termin zum nächsten zu hetzen. Dieses Jahr hat es zumindest im Ansatz geklappt und das freut mich ungemein.

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Realer Horror

Aktuell ist Gruselsaison schlechthin. Doch seit einem Monat halten mich ganz andere Horrorgeschichten wach. Seit dem Terroranschlag in Israel am 07.10.2023 jagt eine Schreckensnachricht die nächste. Und als wären die brutalen, menschenverachtenden Anschläge und die daraus resultierende Gewaltspirale nicht genug, erlebe ich sowohl online als auch offline Reaktionen, die mich am Guten im Menschen zweifeln lassen. Oft genug dürfte es sich um Überforderung oder Unwissenheit handeln. Deshalb schreibe ich diesen Beitrag, um einen greifbareren Zugang zum Nahostkonflikt zu vermitteln.

Warum sollte man sich überhaupt mit dem Konflikt beschäftigen?

Die Terrorwelle aus dem Gazastreifen kam für viele Menschen, mich eingeschlossen, sehr überraschend. Während mich die aktuellen Nachrichten emotional sehr stark aufwühlen, musste ich feststellen, dass dies bei Weitem nicht allen Menschen so geht. Und ehrlich gesagt kann ich das sehr gut nachvollziehen.

Mittlerweile überrollen uns so oft Nachrichten von Naturkatastrophen, Terroranschlägen und Kriegen, dass viele Menschen abschalten. Sicherlich gehört hier auch ein gewisser Selbstschutz dazu, denn je stärker man sich mit den Nachrichten und ihrer Bedeutung auseinandersetzt, desto mehr belasten sie die eigene Psyche. Dieses Mal kann ich aber nicht abschalten.

Von anderen Kriegen und Krisen weiß ich selbst, wie weit weg es sich anfühlen mag, wenn man keine Betroffenen persönlich kennt. Das verhält sich hier anders, denn unsere Freunde und Familie sind betroffen. Neben der Sorge davor, dass sie Opfer eines Raketenangriffs werden oder sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhalten, kommt nun noch die Sorge vor dem Krieg. Mein Schwager wurde direkt als Reservist eingezogen.

Umso verstörender wirkt es auf mich, wie viele Menschen scheinbar überhaupt nicht mitbekommen, was in Israel gerade vor sich geht und ihr Leben einfach weiter leben, als sei nichts geschehen. Versteht mich nicht falsch: Ich möchte niemandem die Stimmung verderben, sondern ein Bewusstsein schaffen.

Ehrlich gesagt wäre es mir manchmal sogar lieber, die Menschen würden einfach mal ihren Mund halten. Denn in den letzten Wochen durfte ich lernen, dass viele Menschen gar nicht wissen, was es mit dem Nahostkonflikt auf sich hat. Ehrlich gesagt ging mir das vor meinem Austausch nicht anders. Ein Grund, weshalb ich mich damals für den Austausch nach Israel entschied, bestand darin, dass ich dringend mehr über Kultur und Geschichte des Landes lernen wollte. Meines Erachtens sollten das alle Menschen in Europa, denn die Geschichte des Nahen Ostens ist mehr mit der Europas verbunden, als es zunächst scheint.

Komplett zu schweigen, halte ich aber ebenso wenig für angebracht. Denn wenn wir uns auf eines einigen können, dann dürfte es doch wohl der Appell an Menschlichkeit sein, oder? Doch genau die vermisse ich bei allen Kommentaren und Diskussionen, die mich in letzter Zeit erreichen.

Grundlagen

Zunächst möchte ich jedoch eine Wertegrundlage dafür schaffen, auf derer Basis wir uns mit dem Thema beschäftigen:

  1. Bevölkerung ≠ Regierung (Das gilt für israelische ebenso wie für palästinensische, libanesische, syrische und auch iranische Menschen. Sie können ebenso wenig dafür, wo sie geboren wurden und in welcher Kultur sie sozialisiert wurden, wie du und ich. Auch wenn eine Regierung gewählt wurde, heißt das nicht, dass sie immer noch demokratische Legitimation besitzt, geschweige denn jedes Individuum repräsentiert.)
  2. Palästinenser ≠ Hamas
  3. Hamas = Terrororganisation, die den Friedensprozess im Nahen Osten blockiert und Israel vernichten möchte
  4. Siedlungen außerhalb des eigenen Territoriums = völkerrechtlich unrechtmäßige Siedlungen, die den Friedensprozess im Nahen Osten ebenfalls blockieren
  5. Glaube ≠ Terrorismus. Religiöse Texte lassen sich pazifistisch oder fanatisch wortgetreu ausleben. Davon, dass das für alle, auch abrahamistische, Religionen (allen voran Judentum, Christentum und Islam) gilt, zeugen Steinigungen im Alten Testament, die Kreuzzüge des Mittelalters und islamistische Terroranschläge. Deshalb hüte ich mich davor, eine Religion über eine andere zu stellen.

Nein, ich bin kein Historiker und habe auch nie Politikwissenschaft oder dergleichen studiert. Aber ich habe schon mehr als zwei Jahre meines Lebens in Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten verbracht, in Jerusalem und Tel Aviv gelebt, in Jerusalem studiert, mich sehr viel mit der Geschichte der Region und Jerusalems im Speziellen auseinandergesetzt und sowohl im Rahmen meines Studiums vor Ort, als auch meiner Bachelor- und Master-Arbeit schriftlich befasst.

Obgleich ich mich um Neutralität bemühe und sowohl israelische als auch palästinensische Kontakte habe, habe auch ich eine Meinung und kann allein aufgrund meiner politischen Einstellung und meiner persönlichen Beziehungen nicht komplett objektiv sein. Deshalb rate ich, nach dem Lesen meines Textes noch weitere Quellen hinzuzuziehen und diese abzugleichen.

Generell bin ich verwundert darüber, mit welcher Doppelmoral hier agiert wird. Es gibt an einem Krieg nichts schönzureden; es wird unschuldige Opfer geben – auf allen Seiten. Gleichermaßen bin ich erstaunt, dass nun ausgerechnet im Falle Israels und Gazas ständig mit dem Finger auf andere gezeigt wird, während bei anderen Konflikten in der Welt scheinbar mit den Schultern gezuckt wird.

Ist der Nahostkonflikt nicht etwas kompliziert für einen Blogbeitrag?

Ehrlich gesagt finde den Nahostkonflikt nicht kompliziert. Er ist zwar defintiv nicht einfach zu lösen, andernfalls wäre es bereits zu einer praktikablen Lösung gekommen. Kompliziert zu verstehen, ist er jedoch nicht.

Ein Konflikt entsteht immer dann, wenn Subjekt A ein Ziel hat, Subjekt B aber nicht möchte, dass Subjekt A es erreicht. In diesem Fall erheben zwei Menschengruppen Anspruch auf dasselbe Territorium.

So simpel kann es sein. Allerdings sind im Nahostkonflikt mittlerweile sehr viele Parteien involviert, was ihn sehr komplex macht. Zwar ist mir bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht allen Seiten in gleichem Maße gerecht werden kann. Allerdings sind mir fünf Punkte wichtig:

  1. Es gibt bei Kriegen keine wahren Gewinner, denn sie verursachen immer Leid Unschuldiger auf allen Seiten. Und für diese Leidtragenden wünsche ich mir mehr Mitgefühl statt völlig unproduktiver und einseitiger Schuldzuweisungen.
  2. Auch wenn ich Gewalt verabscheue, kann ich nicht von Israel erwarten, dass sie sich mit Raketen bombardieren lassen, ohne zur Gegenwehr auszuholen. Das bedeutet, mit allen legitimen Mitteln dafür zu sorgen, dass solch ein Angriff nicht noch einmal stattfinden wird.
  3. Von Terroristen, die Unschuldige entführen, vergewaltigen, foltern und töten, kann ich nicht bei gesundem Menschenverstand erwarten, dass sie sich an Vereinbarungen halten. Deshalb sehe ich auch keinen Grund, mit ihnen zu verhandeln.
  4. Die Hamas wäre durchaus in der Lage, das Elend im Gazastreifen zu beenden, indem sie sich ergeben und alle Geiseln unbeschadet gehen lassen. Stattdessen nehmen sie aber in Kauf, dass Gazas Zivilbevölkerung erneut alles verliert, und missbrauchen sie als Schutzschild. Selbstredend werden sie in ihrer Propaganda Israel und den Westen dafür verantwortlich machen.
  5. Auch wenn ich die extremistischen Strömungen und die Siedlungspolitik in Israel nicht gutheiße, schätze ich als Angehöriger der queeren Community, dass ich in Israel als einziges Land im Nahen Osten selbstbestimmt leben kann. In allen anderen Ländern müsste ich um meine Freiheit und/oder mein Leben fürchten.

So viel zu meinem persönlichen Standpunkt. Kommen wir nun zu ein paar wichtigen Begrifflichkeiten und Konzepten.

Ideal vs. Realität

Im Rahmen dieses Beitrag tauchen zwei Konzepte auf, mit denen ich mich nur schwerlich identifizieren kann: Grundbesitz und Nationalität.

Ehrlich gesagt finde ich es absurd, dass wir Menschen auf die Idee kommen, ein Stück der Erde könne jemandem gehören. Sollten wir es nicht mit allen teilen, so wie wir die Welt um uns herum auch mit unvorstellbar vielen Bakterien teilen? Die Realität ist jedoch eine andere und aus der kommen wir global nur schwierig wieder heraus.

Ähnlich verhält es sich mit Nationalität. In einer idealen Welt, verstünden wir uns alle als Erdenbürger*innen. Praktisch identifizieren sich jedoch die meisten Menschen mit der Nationalität, die in ihrem Reisepass steht.

Doch worauf fußen diese Konzepte denn? Wer entscheidet, welches Stück Erde zu welchem Land und welcher Person gehört? Wieso besitzen manche Menschen die libanesische und andere die syrische Staatsbürgerschaft, obwohl ihre Sprache und ihre Kultur so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, während Menschen der kanadischen West- und Ostküste trotz massiver kultureller Unterschiede und verschiedener Sprachen die gleiche Staatsbürgerschaft besitzen. Einerseits Zufall, andererseits das Ergebnis von Jahrtausende alten Kausalitätsketten namens Geschichte.

Wann ist ein Staat ein Staat?

Hierfür gibt es zwei Ansätze. Zunächst einmal ist ein Staat ein solcher, wenn er folgende Bedingungen erfüllt:

  • Der Staat verfügt über ein Staatsvolk (alias die Bevölkerung).
  • Der Staat verfügt über ein Staatsgebiet (und damit verbunden feste Grenzen sowie die Kontrolle innerhalb derer).
  • Der Staat verfügt über eine Staatsgewalt (also eine Regierung).

Rein theoretisch genügt es, wenn ein Staat sich als solcher bezeichnet, um als Staat zu gelten. Praktisch existiert er jedoch nicht im Vakuum, sondern im Gefüge mit anderen Staaten. Deshalb ist die Anerkennung durch andere Staaten essentiell, um im internationalen Gefüge zu bestehen und diplomatische Beziehungen pflegen zu können.

Im internationalen Kontext sind dafür die Vereinten Nationen maßgeblich. In dieser Organisation befinden sich aktuell 193 Staaten. Stand heute (02.11.2023) erkennen davon 165 Israel und 138 Palästina als Staat an. Deutschland erkennt Palästina aktuell nicht an, weil es zur Bedingung macht, dass zwischen Israel und Palästina Frieden herrscht. Dies ist leider noch nicht der Fall.

Grenzverläufe und Begriffe

Beginnt man, sich mit der Geschichte des Nahen Ostens auseinanderzusetzen, stößt man wiederkehrend auf dieselben Begriffe, die nicht immer dasselbe bedeuten. Besonders deutlich wird dies bei den Grenzverläufen, die sich im Lauf der Geschichte häufiger änderten. Entsprechend ist es wichtig, zwischen beispielsweise biblischen und geopolitischen Begriffen zu unterscheiden. Hierbei verzichte ich bewusst auf eigene Grafiken, empfehle aber, sich das Kartenmaterial, das man unter den Links findet, zum besseren Verständnis anzuschauen.

Ist vom biblischen Israel die Rede, geht es meist um das Land Kanaan, wo sich laut Tora die Israeliten niederließen und neben anderen biblischen Völkern lebten. Dieses war zwar kleiner als das heutige Staatsgebiet Israels, beinhaltete dafür aber auch Teile der heutigen palästinensischen Autonomiegebiete.

Nicht zu verwechseln ist dies mit Großisrael, welches laut biblischer Überlieferung dem “gelobten Land” entspricht, also dem Stück Land, welches laut Tora den Israeliten versprochen wurde. Auch für dessen Grenzverläufe gibt es verschiedene Interpretationen. Eine davon wird als Grundlage für Verschwörungstheorien verwendet, die besagen, Israel würde danach streben, das Staatsgebiet vom Nil bis zum Euphrat ausweiten zu wollen.

Wenn es um die tatsächlichen Grenzen des modernen Staates Israel geht, muss zwischen den international anerkannten und den de facto gebauten Grenzen unterschieden werden. Es gibt Gebiete, die seitens Israel besetzt und teilweise annektiert wurden, ohne dass dies durch die Vereinten Nationen anerkannt wurde.

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Palästina. Hiermit kann gemeint sein:

Aktuell oft im Gespräch: “From the river to the sea – Palestine will be free!” Dieser Ausspruch bezieht sich auf den Jordan (Fluss) und das Mittelmeer östliche beziehungsweise westliche Grenze eines palästinensischen Staates, der somit Israel das Existenzrecht aberkennt.

Bei Geschichte gibt es immer mehr als eine Perspektive. Oft gibt es darüber hinaus auch Verschwörungstheorien, bei denen historische Fakten umgedeutet oder verfälscht werden. Obacht ist also angebracht – aktuell insbesondere in den sozialen Medien.

Wo fangen wir an?

In der Geschichte gibt es selten eine fixe Ausgangssituation, weil stets ein Ereignis auf das nächste folgt und durch diese eine Kausalität entsteht. Im Fall des Nahen Osten lassen sich jedoch einige Schlüsselereignisse ausmachen, die man als Grundlage für die Betrachtungen des Nahostkonflikts verwenden kann. Wer auf der Suche nach einer kompletten historischen Abhandlung ist, kann sich sehr gut umfassend über diesen Wikipedia-Artikel und die darin enthaltenen Links informieren. Doch sei gewarnt: Es handelt sich um einen Kaninchenbau!

Entscheidend für die aktuelle Situation ist die Tatsache, dass sich beide Seiten als Opfer begreifen.

Im Falle Israels fußt dies auf der inhärenten Identität des Judentums, welches seit dem Altertum wiederkehrend ins Exil gezwungen wurde. Egal, wo in der Welt sich jüdische Menschen niederließen, wurden sie immer wieder vertrieben und ausgegrenzt – unter anderem auch in Europa. Deshalb hat Europa auch abseits von Deutschland eine besondere Verantwortung für das Existenzrecht Israels und den Kampf gegen Antisemitismus. Ein Staat, in dem die Mehrheit der Bevölkerung jüdisch ist, scheint die einzige Möglichkeit zu sein, jüdisches Leben in Sicherheit zu gewährleisten. Alle anderen Konzepte sind zuvor gescheitert.

Aus palästinensischer Perspektive wurde den ansässigen Arabern bei Israels Staatsgründung Grund und Boden gestohlen, denn sie hatten dem Teilungsplan der UN dato nicht zugestimmt. Im Anschluss sind viele Menschen palästinensischer Abstammung zu Geflüchteten geworden. In den arabischen Nachbarländern, wurden sie jedoch ebenfalls nicht akzeptiert. Lediglich Jordanien nahm einen Großteil der Geflüchteten auf, wobei auch dort viele über keine Staatsbürgerschaft verfügen, denn der palästinensische Staat wurde erst 1988 aus dem Exil ausgerufen. Dieses langanhaltende Leid und Gefühl der Ungerechtigkeit ermöglichte eine deutliche Radikalisierung auf palästinensischer Seite.

– Status von Geflüchteten –

In Folge des UN-Teilungsplans von 1947 wurden ebenso viele jüdischen Menschen aus den arabischen Ländern vertrieben. Hier stellt sich die Frage, was zu erst war: Das Huhn oder das Ei. Auf beiden Seiten geht man von über 700.000 Menschen aus, die vertrieben wurden oder geflüchtet sind.

Leider ergibt sich hier ein Ungleichgewicht. Denn während der jüdische Staat den Großteil der jüdischen Geflüchteten und Vertriebenen aufnahm und allen das Anrecht auf eine Staatsbürgerschaft bot, galt das nicht für arabische Menschen, die den Staat Israel nicht anerkannten. Gleichermaßen erhielten diese weder eine Staatsbürgerschaft in einem der arabischen Nachbarländer, noch die palästinensische, denn einen Staat Palästina gab es noch 1948 noch nicht, da dieser erst 40 Jahre später aus dem Exil ausgerufen wurde.

In der Folge gibt es heute nach UN-Definition über 5 Millionen palästinensische Geflüchtete, da laut Definition auch die Nachfahren eines männlichen Palästinensers den Status eines Geflüchteten erhält, wenn der Vater ihn bereits inne hat – auch wenn sie anderswo geboren werden.

Nun kann man sich die Geschichte anschauen und verstehen, warum wir uns heute dort befinden, wo wir uns befinden. Dabei stellen wir fest, dass alle Seiten Fehler begangen haben: Die Europäer und Araber haben jüdische Menschen immer wieder ausgegrenzt, angegriffen und vertrieben – sowohl in Europa als auch in Nordafrika und Westasien. Großbritannien hat sowohl der arabischen Bevölkerung in seinem Mandatsgebiet als auch der zionistischen Bewegung Versprechen geleistet, die sich nicht vereinbaren ließen. Die Vereinten Nationen schlossen einen Teilungsplan, der von arabischer Seite von vornherein abgelehnt wurde. In der Folge wurde lediglich der jüdische Staat ausgerufen, welchem von allen arabischen Nachbarn noch am selben Tag der Krieg erklärt wurde. Überraschender Weise gewann Israel nicht nur diesen, sondern auch die zwei folgenden Kriege und gewann so Kontrolle über zusätzliche Territorien. Über Jahrzehnte hinweg hat Israel jedoch auch wiederkehrend den Siedlungsbau außerhalb des eigenen international anerkannten Staatsgebiets vorangetrieben und so den Friedensprozess blockiert. Sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite sind Extremisten an der Macht und Korruption an der Tagesordnung. Zu tragen hat dieses Leid in beiden Fällen die Bevölkerung.

Lösungsansätze

Wenn man nun immer wieder auf den Fehlern der Vergangenheit herumreitet, wird es keine Lösung geben. Es wird, so schmerzlich es auch sein mag, einer Amnestie bedürfen. Gleichermaßen werden beide Seiten Zugeständnisse machen müssen, um einen Frieden zu ermöglichen. Der Siedlungsbau von jüdischen Extremisten wird ebenso enden müssen, wie gegenseitige An- und Übergriffe. Entscheidend ist in jedem Fall der Blick in die Zukunft: Wie kann man künftig Konflikte vermeiden? Wie lässt sich die Region langfristig stabilisieren?

Dafür gibt es mehre Lösungsansätze, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte:

Die Zweistaatenlösung ist die international am breitesten anerkannte Lösung. Sie sieht vor, dass zwei von einander unabhängige Staaten Israel und Palästina anhand der vereinbarten Grenzen (je nach Standpunkt verschiedene) friedlich koexistieren. Bisher hat die Zweistaatenlösungen jedoch nicht zum Erfolg geführt, weil sich beide Seiten nicht auf Grenzen einigen konnten. Zunächst wurde der Teilungsplan von arabischer Seite komplett abgelehnt. In den 1990er-Jahren näherte man sich schließlich an, es kam jedoch nie zur kompletten Umsetzung. Knackpunkte, die nach wie vor eine Einigung verhindern sind:

  • der exakte Grenzverlauf, da Israel aktuell die Kontrolle über Gebiete ausübt, die laut UN-Teilungsplan zum palästinensischen Staat gehören sollen
  • die militärische und wirtschaftliche Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen seitens Israel, welches diese aus Sicherheitsgründen nicht aufgeben möchte
  • die Kontrolle über die Stadt Jerusalem, welche beide Seiten als ihre Hauptstadt beanspruchen

Es gab seitens Israel etliche einseitige Vorschläge, die jedoch von palästinensischer Seite abgelehnt wurden, weil sie nicht bei der Erstellung der Vorschläge involviert waren. Doch es gibt noch weitere Alternativen zur Zweistaatenlösung.

Die Ein-Staat-Lösung sieht vor, das Israel und Palästina als ein föderaler Staat aufgefasst werden, in denen es zwei Bundesstaaten gibt, nämlich einen jüdischen und einen palästinensischen. Das hätte man vor hundert Jahren womöglich noch umsetzen können, aber bereits damals kam es zu Konflikten zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung, weshalb die Peel-Kommission 1936 zum Entschluss kam, dass eine Teilung erfolgen muss. Heute wäre diese Lösung noch unwahrscheinlicher, weil sie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu Ungunsten der jüdischen Bevölkerung ändern würde. Das wäre jedoch nicht im Sinne eines Staates, der sich explizit als jüdischer verstehen möchte und allen jüdischen Menschen ein Zuhause gewähren soll. Deshalb ist diese Variante ebenfalls nicht realistisch.

Schließlich gibt es noch die Dreistaatenlösung in verschiedener Auslegung:

  • Variante 1: Es gibt Israel und Palästina als einzelne Staaten und Jerusalem steht unter international Verwaltung, gehört also zu keinem der beiden. Dann würde Tel Aviv auch innerhalb Israels die Hauptstadt und Ramallah würde es wohl für Palästina. Diese Variante scheitert bis dato jedoch daran, dass beide Seiten darauf beharren, dass Jerusalem die Hauptstadt sei. Vornehmlich hat dies tatsächlich religiöse Gründe, weil in Jerusalem die heiligsten Städte des Judentums und die drittheiligste Stätte des Islams stehen. Davon kann man halten, was man möchte.
  • Variante 2: Einen Staat Israel, einen Staat Palästina und einen Staat Gaza. Aktuell befinden sich das Westjordanland und der Gazastreifen nicht unter einheitlicher Kontrolle. Außerdem werden beide Territorien durch das Staatsgebiet Israels geteilt. Warum also nicht von vornherein drei Staaten? Problem hierbei: Die PLO wird nicht auf Gaza verzichten wollen, weil dies ein wirtschaftlich relevanter Zugang zum Mittelmeer ist. Die Hamas wird nach wie vor Israel auslöschen und Kontrolle über das gesamte Westjordanland beanspruchen. Und der Status Jerusalems ist ebenfalls noch ungelöst.

Bei keinem bisherigen Lösungsansatz sind also alle Seiten zufriedengestellt. Entsprechend wird es Zugeständnisse und Kompromisse auf beiden Seiten geben müssen.

Dazu möchte ich noch anmerken, dass es durchaus einige Israelis gibt, die die Ansprüche der Regierung in Frage stellen. Bei meinen Aufenthalten durfte ich Menschen mit den verschiedensten Hintergründen kennenlernen. Einerseits gibt es einige Israelis, die sich fragen, ob es es wert ist, einen jüdischen Staat zu unterhalten, wenn er immer wieder so viele Menschenleben kostet. Andererseits leben viele säkular. Deshalb ist ihnen Jerusalem als Hauptstadt gar nicht wichtig, weil sie mit all den ultraorthodox-religiösen Menschen dort ohnehin kaum Gemeinsamkeiten geschweige denn eine Meinung teilen. Deshalb bieten sie an, dass Palästina doch Jerusalem ruhig bekommen möge, dann aber gleich mit den Menschen dazu. Darauf lässt sich die rechtsextreme Koalition Israels natürlich nicht ein. Und auch, wenn dies mit einem zwinkernden Auge zu lesen ist, verdeutlich es, wie stark gespalten die israelische Gesellschaft ist. Obwohl sehr viele Israelis mehr als eine Staatsbürgerschaft innehalten, gibt es für die meisten nach wie vor kein anderes Land, in dem sie in Frieden und Sicherheit leben können. Deshalb geben sie ihre Heimat definitiv nicht auf.

Narrative entlarven

Diese angesprochene Spaltung machen sich leider auf beiden Seiten korrupte Politiker zunutze. So ist es doch schon sehr auffällig, dass der Terroranschlag ausgerechnet in einer Zeit kommt, in der es für Netanyahu politisch brenzlig wurde, ein Bürgerkrieg drohte und Netanyahu eigentlich vor Gericht stehen sollte. Durch einen gemeinsamen Feind ist die israelische Bevölkerung sofort wieder vereint. Zufall? Mag sein. Aber die Tatsache, dass die umstrittene Justizreform aktuell kein Thema mehr ist, kommt für ihn sehr gelegen. Natürlich stellt sich die Frage, warum so viele Soldaten aus der Region um den Gazastreifen zuvor ins Westjordanland versetzt wurden, um dort jüdische Siedler vor palästinensischen Angriffen zu schützen, wenn die eigentliche Gefahr doch aus Gaza kommt.

Auch wenn Abbas bei Weitem nicht so extrem ist wie die Hamas: Eine demokratische Legitimation liegt bei ihm ebenso wenig vor. Dafür fällt er wiederholt wegen antisemitischer Äußerungen und Veruntreuung von Geldern auf.

Ebenso auffällig ist, dass Israel exakt so reagiert, wie man es bei einem Angriff auf das Land hätte vorhersagen können, denn Israel muss die eigene Bevölkerung verteidigen. Der Hamas ist das Leid der Bevölkerung Gazas freilich egal, denn es unterstützt ihre Narrative: “Seht her! Israel macht unser Land dem Erdboden gleich und attackiert unschuldige Zivilisten!” Dass die Hamas ihre Terroristen und Waffen bewusst hinter ziviler Infrastruktur versteckt und so unschuldige Menschen als Schutzschilde missbraucht, ist schon schlimm genug. Doch langfristig drehen sie die Gewaltspirale und heizen die Gemüter der Betroffenen noch weiter auf. Wer wäre nicht außer sich, wenn man die Liebsten bei einem Luftangriff verliert? Somit ist wieder eine weitere Generation traumatisiert – auf beiden Seiten.

Im internationalen Kontext wird deutlich, auf wie vielen Ebenen dieser Konflikt ausgetragen wird. Denn wer profitiert hier? Hizbollah und Iran können sich in der Arabischen Liga gegen Israel positionieren – exakt in dem Moment, in dem Israel und einige arabische Länder ihre diplomatischen Beziehungen verbessern. Anstatt also zuzulassen, dass eine Handelsallianz entsteht, die den Frieden in der Region stärkt, destabilisieren sie, um ihre eigene Position zu stärken.

Darüber hinaus werden wir jedoch auch im Alltag oft genug mit Narrativen konfrontiert, die antisemitisch oder islamfeindlich sind. Im letzten Monat wurde ich mit derart vielen antisemitischen Narrativen und geschickt getarnter Propaganda auf beiden Seite konfrontiert, dass ich exemplarisch anhand von ein paar Mythen aufzeigen möchte, wie leicht es sein kann, diese als Fiktion zu entlarven, wenn man sich gründlich informiert und vor allem stets fragt: Wem dient dieses Narrativ? Die folgenden drei sind nur exemplarische Beispiele, die mir in den letzten Wochen häufiger über den Weg gelaufen sind:

  • “Es ist doch schon auffällig, dass es immer dort kracht, wo die Juden sind, oder?”
    >> Diese Aussage betreibt Täter-Opfer-Umkehr und bedient antisemitische Narrative: Jüdische Menschen wurden seit dem Altertum wiederkehrend als Sündenböcke missbraucht, vertrieben und ausgegrenzt. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie Opfer wurden.
  • “Daran sind die Israelis selbst Schuld! Warum besetzen sie die Palästinensischen Gebiete auch über Jahrzehnte hinweg?!”
    >> Auch hier erfolgt eine Schuldumkehr. Für die terroristischen Angriffe sind die Täter selbst, also die Terroristen der Hamas verantwortlich, nicht die Israelis. Gleichermaßen sind jüdische Siedler im Westjordanland (= Extremisten) ebenso wenig mit allen anderen Israelis gleichzusetzen wie die Hamas mit der Palästinensischen Bevölkerung. Unabhängig davon stehen hier stets die palästinensischen Autonomiebestrebungen im Widerspruch zu israelischen Sicherheitsinteressen. Israel und die PLO haben sich unter anderem 1995 darauf verständigt, dass Israel in den C-Zonen des Westjordanlandes weiterhin militärische Kontrolle ausübt, um die Sicherheit der Region zu gewährleisten. Dieses Abkommen wurden seitens Mahmud Abbas jedoch mehrfach einseitig aufgekündigt. Selbstredend möchte Israel seine Sicherheit deshalb nicht aufgeben. Israel hat den Gazastreifen übrigens 2005 verlassen. In letzter Folge riss die Terrororganisation Hamas dort die Macht an sich. Wenn der Gazastreifen also unter Besetzung leidet, dann durch die Diktatur der Hamas.
  • “Mit dem Islam kann etwas nicht stimmen, wenn er so viele Terroristen hervorbringt!”
    >> Es gibt durchaus auch andere religiöse Fanatiker, die zu Terroristen werden. Die Frage ist, wie viel über diese berichtet wird. Ein prominentes Beispiel für einen jüdischen Terroristen ist Baruch Goldstein. Aber auch christliche Terrorristen gibt es zur Genüge. Man denke nur an an den Sturm auf das Kapitol in Washington 2021. Die Weltanschauung allein hat damit nichts zu tun.

Deshalb rate ich stets die Frage, wer von diesem Narrativ profitiert, im Hinterkopf zu behalten. Außerdem empfehle ich diesen Leitfaden von der Tagesschau, um Falschmeldungen zu enttarnen.

Was können wir tun?

Ja, die Situation scheint hoffnungslos. Und bei aller Komplexität und zahlreichen erfolglosen Versuchen, beim Stammtisch eine Lösung für den Nahostkonflikt zu finden, die auf einen Bierdeckel passt, drängt sich der Eindruck auf, als könne man hierzulande gar nichts unternehmen. Doch das stimmt nicht, denn drei Dinge sind immer möglich und das sogar ganz ohne Geld:

  1. Zeig Empathie für Betroffene!
  2. Informier dich bei mehreren Quellen!
  3. Bleib skeptisch!

Und zu guter Letzt: Bitte bleib zuversichtlich und bewahre deine Menschlichkeit!

Alles Liebe
Philipp

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