Den ganzen Winter über schon sehnte ich mich nach dem Klima, der Küche und der Landschaft Italiens – oder besser gesagt meiner Vorstellung davon, die sich aufgrund meiner bisherigen Reisen auf Norditalien während Frühling und Herbst beschränkt. Denn Berlin im Januar sorgt nicht gerade für Wohlbefinden, nachdem der Zauber der Feiertage vorüber, der Müll von Silvester noch auf den Straßen und der Glanz der Berlinale noch in weiter Ferne sind. Inzwischen ist der Winter zwar vorüber (und der Frühling den Temperaturen nach zu beurteilen auch). Doch da ich heuer wohl leider gar nicht nach Italien reisen werde, bediene ich mich stattdessen wundervoller Erinnerungen und einer Epiphanie, die ich in der Folge hatte, um meine Sehnsucht zu stillen.
Italo-Nostalgie
Meine ersten Erinnerungen an Italien entstammen meiner frühen Kindheit: Meine Eltern wollten mit mir in den Alpen Urlaub machen, bekamen jedoch in Osttirol keine Unterkunft. Stattdessen wurden wir auf Südtirol verwiesen und dort in einer frisch eröffneten Unterkunft mit Halbpension fündig.
Nach unseren Tagesausflügen spielte ich mit den Kindern der Inhaberinnen. Das klappte damals auch ohne Italienischkenntnisse. Außerdem erhielt mein geliebtes Schlumpf-Plüschtier dort seinen Namen: Puffo. (Das bedeutet wortwörtlich “Schlumpf” auf Italienisch.) Abseits eines Erlebnisses in den Bergen habe ehrlich gesagt vor allem Erinnerungen an die opulenten Abendessen mit meinen Eltern, die uns die Gastgeberinnen allabendlich servierten. Allerdings ist ein Gefühl bis heute erhalten geblieben.
Dieses Gefühl fand ich in Büchern und Filmen wieder, die allesamt in einen Sommer in Italien platziert wurden – zumeist aus der Perspektive von US-Amerikaner*innen, die glaubten, das Paradies auf Erden gefunden zu haben. Zufall? Ich glaube nicht!
Auch in meinem eigenen Leben begleitete mich dieses Gefühl wiederkehrend. Zu nennen wäre da die Studienreise nach Italien in der 11. Klasse, die ich eigentlich gar nicht antreten wollte, weil ich so viel lieber nach London wollte als nach Rom. Dass es am Ende trotzdem richtig schön war, lag weniger an dem straffen Programm für die wenigen Tage, sondern vor allem am letzten Tag, den wir uns in Florenz größtenteils frei einteilen durften, sodass ich mich allen florentinischen Freuden hingab, die mir über den Weg liefen. Auch in den jährlichen Osttirol-Urlauben begegnete ich dem Gefühl wieder. Oft verbrachten wir einen oder zwei Tage in Südtirol am Antholzer See, ließen alle Vier gerade sein und genossen abends eine Steinofenpizza vom Anger.
So sehr wir diese Ruhe im Urlaub genossen, geriet sie auch in starken Konflikt mit der uns in die Wiege gelegten preußischen Tugend des Fleißes: Sollten wir nicht eigentlich noch einen Gipfel erklimmen, statt auf unserer faulen Haut zu liegen? Müssen die Einheimischen eigentlich gar nicht arbeiten oder wieso haben die alle Zeit, den ganzen Tag am See zu flanieren? Und wo wir schon dabei sind: Wie können es sich die ganzen Geschäfte leisten, gerade während der Mittagszeit für zwei Stunden zu schließen?
Genuss ohne schlechtes Gewissen
Heute weiß ich es zum Glück in mehrerlei Hinsicht besser: Das Geheimnis der Mittagsschließzeiten nennt sich riposo, ein Nickerchen am frühen Nachmittag. Das kann richtig angewandt nicht nur im Arbeitsalltag zu besserer Energie und Konzentrationsfähigkeit beitragen, sondern auch langfristig positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Glaubt man nicht? Dann suche man mit der Suchmaschine des Vertrauens mal nach “positive Auswirkungen von Nickerchen”.
Doch selbst ohne gesundheitliche Vorteile, die dafür instrumentalisiert werden, längerfristig leistungsfähig zu bleiben, haben es Menschen in Italien scheinbar besser raus, das Leben in all seinen Facetten zu genießen, als wir in Deutschland. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, Ohne Fleiß/Schweiß kein Preis und Das Leben ist kein Honigschlecken bezeugen im Kleinen die weit verbreitete preußische Arbeitsmoral. Die besagt, dass man erst etwas genießen darf, wenn man hart dafür geschuftet hat.
Das empfinde ich als Unsinn! Einen Sonnenuntergang kann ich immer genießen, solang ich mir die Zeit dafür nehme. Ja, für manche Dinge, lohnt es sich, sich anzustrengen. Oft stellt sich jedoch die Frage, ob man eigentlich arbeitet, um zu leben, oder lebt, um zu arbeiten. Wohl denen, die ihre Erwerbsarbeit mit Freude verrichten. (#luckyme) Prinzipiell brauche ich aber niemandes Erlaubnis zur Freude.
Deshalb empfinde ich die preußische Arbeitsmoral als aus der Zeit gefallen. Zur Zeit der Industrialisierung folgten aus mehr Arbeit auch mehr Ergebnisse. Das gilt heute nur noch bedingt, was ich allem voran in der Kreativbranche feststelle. Viel Arbeit allein tut es hier nicht; es kommt auch sehr stark auf die richtigen Rahmenbedingungen an, um gute Ergebnisse zu erzielen. Druck ist das Gegenteil von Muße und führt selten zu genialen Ideen. Das spüre ich vor allem dann, wenn ich mich über mich selbst ärgere, weil ich nicht wie eine Maschine Ergebnisse produzieren kann.
Wie so oft ist das richtige Gleichgewicht entscheidend. Dem verschreibt sich auch die italienische Lebensart, die oft unter la dolce vita zusammengefasst wird Was verbirgt sich also hinter dem “süßen Leben”? Es geht um die richtige Balance, denn das Leben besteht nicht nur aus Arbeit, sondern sollte allem voran genossen werden. Die drei Säulen dieser Lebensart bestehen aus Freizeit, Schönheit sowie Verbindung, und finden sich in vielen Bereichen der italienischen Kultur wieder.
- Freizeit darf ruhig wörtlich verstanden werden: Oft bemerke ich beim Blick in meinen Kalender, wie rasch ich jegliche freien Zeiträume mit Aktivitäten auffülle – egal ob beruflich oder nicht. Wie frei ist meine Freizeit wirklich, wenn ich in dieser Ergebnisse leisten möchte oder schon wieder an Verpflichtungen und arbeitsreiche Vorhaben denke? La dolce vita setzt den Fokus auf Qualität statt Quantität. Was nützen ganz viele Aktivitäten, wenn man keine davon genießt? Also lieber weniger und dafür genussvoll. Das gilt für Alltag gleichermaßen wie für Urlaub und Reisen und versteht sich als Aufruf zur Entschleunigung.
- Schönheit lässt sich nicht nur in der reichen Kunst- und Kulturgeschichte sowie Luxusmanufakturen Italiens entdecken, sondern vor allem in den kleinen Dingen im Alltag. Ja, hierbei geht es auch darum, sich bewusst mit Schönem zu umgeben – beispielsweise bei der Wahl der Garderobe. Aber es gelingt auch ganz immateriell bei der Bewunderung der uns umgebenen Natur oder Architektur, dem Entdecken besonders berührender Literatur oder dem Erleben schöner Momente.
- Verbindung zielt hier nicht darauf ab, permanent online zu sein. Vielmehr geht es um zwischenmenschliche Verbindung von Angesicht zu Angesicht. Wenn ich an mein bisheriges Leben zurückblicke, waren die schönsten Momente nicht die des materiellen Reichtums, sondern stets die, in denen man viel Zeit mit den Liebsten verbracht hat.
Wahrscheinlich lassen sich diese drei Säulen bei keinem Aspekt besser vereinen, als in der italienischen Küche. Ja, die Zubereitung erfordert Arbeit. Doch im Anschluss kann man stundenlang gemeinsam genießen, plaudern und lachen – ohne Gedanken an die noch zu verrichtende Arbeit alias Abwasch (Freizeit), mit Genuss all der Leckereien (Schönheit) und in trauter Gemeinschaft (Verbindung).
Ein neuer Sehnsuchtsort ward geboren
Häufig stelle ich fest, wie sehr ich noch in meinen preußischen Denkmustern verhaftet bin, obwohl ich die längst als falsche Glaubenssätze entlarvt habe. Entsprechend naheliegend lechzte ich im Winter nach all den feiertäglichen Freuden nach mehr süßem Leben: Ich wollte schlichtweg der preußischen Tristesse entfliehen, mehr Freizeit, Schönheit sowie Verbindung genießen.
Verstärkt wurde meine Sehnsucht noch durch eine Reiseerinnerung aus dem Jahr 2022. Dabei ergab sich besagte Reise beinahe zufällig, denn eigentlich wollte ich nach zwei Jahren Pandemie ein mir neues Land erkunden und nach Griechenland reisen. Da sich dies auf der Zugstrecke jedoch als langwierig erweist, buchte ich vorab schon mal ein separates Ticket nach Venedig, um von dort mit der Fähre überzusetzen.
Doch dann kam alles anders, denn mir wurde mein Urlaub (trotz ausreichender Urlaubstage) nicht in voller Länge bewilligt, weshalb mir gar nicht ausreichend Zeit blieb, um die Reise nach Griechenland und zurück zu schaffen. Kurzerhand machte ich aus der Not eine Tugend und entschloss mich für eine Interrail-Tour durch Italien. Neue Route: Berlin – Venedig – Bologna – Florenz – Cinque Terre – Turin – Bergamo – Mailand – Berlin
Auch dieser Plan hielt nicht lang, denn unterwegs meldete sich eine liebe Freundin. Sie hatte mir zuvor schon häufiger vorgeschwärmt, wie essentiell es für sie ist, einmal jährlich in der Toskana auf einem Weingut Urlaub zu machen und einfach nur in den Tag hineinzuleben. Sie war zwar gerade nicht dort, aber ihre Cousine, die mit mir zur Schule ging und ich schon über zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte. Also nahm ich Kontakt auf, reiste spontan auf das Weingut und… blieb für die restliche Zeit dort!
Nach all den neuen Eindrücken in Venedig, Bologna und Florenz tat mir die Ruhe auf dem entlegenen Weingut unglaublich gut. Pläne gab es nicht so wirklich. Stattdessen lebten wir in den Tag hinein, aßen gut, unterhielten uns und lachten gemeinsam, lasen mit Ausblick über die Weinberge, spielten bis in die Nacht Spiele – alles ganz zwangfrei und dennoch – oder gerade deshalb – la dolce vita in Reinform.
Seitdem kann ich das Bedürfnis meiner Freundin sehr gut nachvollziehen und bin sehr dankbar für diese Erfahrung – die leider auch die bis dato einzige blieb. Denn das Weingut wurde zwischenzeitlich verkauft und es bot sich keine Gelegenheit mehr für eine Erholungsreise nach Italien. Und so gern ich – insbesondere in Anbetracht meines Jahresmottos – jährlich einen solchen reinen Erholungsaufenthalt in meinem idealen Jahr inkludieren möchte, brauche ich das natürlich nicht zwingend.
Denn la dolce vita lässt sich auch außerhalb Italiens leben. Es braucht nur die richtige Einstellung und das richtige Gleichgewicht.
Alles Liebe
Philipp