Anregungen für eine gelingende Verkehrswende

Dieses Jahr feiert die Verkehrswende bereits ihr 50-jähriges Bestehen. Gruselig, dass wir noch nicht weiter gekommen sind, oder? Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, wie strittig und politisch geladen das Thema ist. Doch da wir seit wenigen Wochen ja nun doch über eine neue Bundesregierung verfügen, bietet es sich an, die Diskussion mal wieder aufleben zu lassen.

Denn der Eindruck verdichtet sich, dass sich aktuell weder auf regionaler, noch auf nationaler oder gar internationaler Ebene genug bewegt. Deshalb habe ich ein paar Vorschläge, die von Entscheidungsträger*innen vergleichsweise einfach umgesetzt werden könnten – vorausgesetzt der Wille dazu wäre gegeben.

Da ich mit Sicherheit nicht nicht der erste Mensch bin, dem diese Ideen in den Kopf kommen, möchte ich keine Urheberschaft auf sie erheben. Zu nennen wäre da beispielsweise der österreichische Zivilingeneur Hermann Knoflacher, der bereits 1975 mit seinem Gehzeug veranschaulicht hat, wie viel Platz Autos in Städten verschwenden. Die Idee dahinter: Ein Holzrahmen mit der Fläche eines Mittelklassewagens, den Fußläufige über ihren Schultern tragen können, um den Raum zu beanspruchen, den sonst ein Auto verbrauchen würde. Absurd, aber wirkungsvoll, wenn man sich einmal überlegt, wie viele Autos in unserer Gesellschaft den Großteil des Tages rumstehen und öffentlichen Raum verschwenden.

Wie man damit umgehen könnte, hatte ich hier schon einmal beschrieben. Darum soll es heute aber gar nicht gehen, denn es ist ebsenso mit einer gewissen technokratischen Utopie verbunden wie die Idee, Autos komplett unterirdisch verkehren zu lassen. Mein Hauptanliegen für eine gelingende Verkehrswende ist das folgende:

Wer es mit der Verkehrswende ernst meint, priorisiert auch entsprechend

Was das bedeutet? Einfach gesagt sollen die Verkehrsmittel, die entscheidend zu einer nachhaltigen und lebenswerteren Zukunft beitragen, auch entsprechend gefördert und hervorgehoben werden. Verkehrsmittel, die einer ebendieser Zukunft schaden, nicht und womöglich sogar sanktioniert. Aktuell stellt sich das Bild aber eher gegenteilig dar.

Natürlich hört niemand gern von Verboten oder Strafen. Auf der anderen Seite erwarten uns in Form von Naturkatastrophen viel schlimmere Strafen als höhere Steuern oder Ticketpreise. Wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. ausführt, wurde im Jahr 2016 beispielsweise der Flugverkehr durch Befreiungen von der Energie- und im Fall von internationalen Flügen der Mehrwertsteuer mit über 11 Milliarden Euro subventioniert. Da verwundert es nicht, dass Flugtickets im Vergleich zu Zugfahrkarten so günstig angeboten werden konnten.

Wer es mit der Verkehrswende ernst meint, muss wahrscheinlich ein paar zunächst unliebsame Entscheidungen treffen. Doch im Laufe der Zeit, können die einige liebgewonnene Vorteile mit sich bringen.

Ziele der Verkehrswende

Welche Vorteile bietet also eine mögliche Verkehrswende überhaupt? Im Groben lassen sie sich in folgende Bereiche unterteilen:

  • mehr Klima- und Umweltschutz
  • bessere Gesundheit
  • höhere Lebensqualität

Klima- und Umweltschutz dürften auf der Hand liegen: Je mehr fossile Brennstoffe wir für unsere täglichen Wege in Anspruch nehmen, desto mehr Emissionen klimaschädlicher Treibhausgase stoßen wir aus. Gleichermaßen bedeutet Straßen- und Flughafenbau Versiegelung von natürlichen Flächen, weshalb Wasser nicht so flächendeckend vom Boden aufgenommen werden kann, sich insbesondere städtische Umgebungen stärker aufheizen und Landschaften zerschnitten werden. Letzteres gilt freilich auch für Bahntrassen, aber das hier wird auch kein Auto-Hass-Beitrag werden, versprochen. 😇

Gesundheitlich wirken sich Abgase schlecht auf unsere Atemwege aus, können kurzfristig Kurzatmigkeit und Husten, mittelfristrig Asthma und langfristig Lungenkrebs fördern. Individualverkehr fördert tendenziell Gereiztheit, Lärm und Stress. Außerdem ist er Unfallursache und unterstützt chronischem Bewegungsmangel.

Der Punkt Lebensqualität hat in puncto Verkehr zwei Seiten: Ruhe und Komfort. Viel Individualverkehr mit Autos sorgt vor allem in städtischen Gegenden für Lärm und Unruhe. Deshalb werden Stadtteile mit wenig oder komplett ohne Verkehr als lebenswert wahrgenommen: Es ist angenehmer, sich dort aufzuhalten, als an einer dreispurigen, von Autos befahrenen Straße. Die andere Seite ist jedoch der Komfort. Denn zu Lebensqualität gehört ebenso ein gewisses Maß an Mobilität. Wenn ich also in einer schlecht angebundenen Gegend wohne und auf ein Auto angewiesen bin, empfinde ich die Ruhe womöglich als nicht so qualitativ, weil ich abgeschnitten bin und nirgends hinkomme, ohne weite Strecken zu laufen, mit dem Fahrrad zurückzulegen oder eben ins Auto zu steigen.

Ein paar Ideen

Manche davon mögen auf den ersten Blick etwas radikal wirken, brauchen aber meines Erachtens vor allem etwas etwas Eingewöhnung. Beispiel Tempolimit auf Autobahnen: In Deutschland ist man es gewohnt, ohne Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen fahren zu dürfen. Würde das aufgehoben, mag es sich zunächst einmal wie eine Beschränkung und Freiheitsberaubung anfühlen. Gegen diese Emotion kommen aber rationale Vorteile wie mehr Sicherheit und weniger Ressourcenverbrauch nicht an.

Hier sind sie also, die (teilweise radikalen) Ideen:

Mehr ÖPNV-Ausbau

Das gilt insbesondere für den ländlichen Raum und mit langfristiger Planbarkeit. Während in Großstädten das ÖPNV-Angebot teilweise hervorragend ist, hängt es im ländlichen Bereich oft, sodass man dort genötigt wird, ein Auto zu besitzen, um den Alltag zu bewältigen. Nun höre ich schon Rufe lauter werden, dass die Nachfrage im ländlichen Bereich nicht groß genug ist, um das zu rechtfertigen. Damit setzt sich aber ein Teufelskreis in Bewegung:

Für die meisten Menschen ist der Kauf eines Autos eine langfristige Investition für zehn und mehr Jahre. Entsprechend möchte man diese auch möglichst lang nutzen. Wenn ich also auf dem Land leben würde und mich entscheiden müsste, ob ich ein Auto kaufe, würde ich auf den Status quo des ÖPNV schauen und wahrscheinlich feststellen, dass es ohne eigenes Auto schwierig wird. Angebote wie das Deutschland-Ticket helfen da auch nicht weiter, wenn die Infrastruktur nicht gegeben ist. Und da Autos eine langfristige Investition darstellen, genügt es auch nicht, den ÖPNV kurzfristig aufzustocken.

Damit man sich auf die Öffis verlassen im ländlichen Bereich verlassen kann, braucht es eine verlässliche, langfristige Zusage, dass sie erhalten und ausgebaut werden – zunächst ungeachtet der Nachfrage. Denn ein Großteil der Menschen, die ein Auto besitzen, werden sich die Entscheidung über Öffis oder Individualverkehr wahrscheinlich aufheben, bis die erneute Investition eines Autos ansteht – was Jahre oder gar Jahrzehnte dauern kann.

Wenn ich das Folgende schreibe, klinge ich wahrscheinlich arg kommunistisch, aber in meinen Augen gehören Öffis ebenso wie Wasser-, Wärme-, Elektrizitäts-, Gesundheits- und Internetversorgung zur grundlegenden Infrastruktur einer Gesellschaft, denn sie ermöglichen – idealerweise – Teilhabe über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. Entsprechend kritisch betrachte ich hierbei Privatisierung und Gewinnorientierung.

Mehr Straßen den Menschen

Wie unser öffentlicher Raum gestaltet ist, stellt keinen Zufall dar, sondern basiert auf bewussten Entscheidungen. Aktuell wird Autos mehr Priorität eingeräumt als den Menschen. Das zeigt sich in mehrerlei Hinsicht.

Wenn ich als Fußgänger die Straße sicher überqueren möchte, muss ich je nach Ampel eine oder mehrere Minuten warten und erhalte für wenige Sekunden grünes Licht. Bei Autos verhält es sich andersherum. Nun stelle man sich vor, Fußläufige erhielten stets Vorfahrt. Schon wäre es attraktiver, zu Fuß zu gehen, und weniger attraktiv, mit einem Auto innerhalb der Stadt zu verkehren.

Immer wenn Sonderveranstaltungen wie der CSD in Berlin stattfinden, zeigt sich das volle Potential der Straße des 17. Juni. Denn dann wird sie für Autoverkehr gesperrt. Stattdessen wird sie von Fußläufigen in Beschlag genommen und die Atmosphäre wechselt schlagartig.

Dieses Prinzip lässt sich für viele Straßenzüge anwenden – insbesondere für Parkplätze. Es ist Wahnsinn, wie viel Zeit eines Tages ein Auto am Tag einfach nur rumsteht und Platz in Anspruch nimmt, ohne genutzt zu werden. Das ist insbesondere im öffentlichen Raum ärgerlich, wo der Platz wesentlich besser für Menschen genutzt werden könnte, beispielsweise in Form von Fahrradwegen, Grünflächen, Wohnraum, Kulturstätten, Ruhezonen oder öffentlichen Begegungsräumen.

Stattdessen ist der Raum tot.

Mehr Shareconomy

Natürlich verstehe ich, dass alle Menschen, die ein Auto besitzen, dieses auch parken müssen. Allerdings stelle ich in Frage, warum so viele Menschen privat ein Auto besitzen müssen.

Das liegt natürlich nicht (nur) an den Menschen, sondern am System. Unsere Gesellschaft ist sehr stark auf Privatbesitz und Individualverkehr ausgerichtet und wird es in Zukunft (zumindest unter der aktuellen Regierung) noch mehr. Eben weil die Infrastruktur so ist, wie sie ist, besitzen viele Menschen ein Auto, nutzen es aber den Großteil der Zeit nicht.

Hier könnte gemeinschaftliche Nutzung statt individuellem Besitz ein Lösungsansatz sein. Allen Menschen, die sich äußerst stark mit ihrem eigenen Auto identifizieren, wird das ein Dorn im Auge sein. Für alle anderen stellt sich die Frage: Wäre es nicht günstiger, wenn sich eine Gruppe von Menschen die Kosten für ein Auto teilt, statt pro Person ein eigenes Fahrzeug zu kaufen und unterhalten?

Auch hier spielt Komfort eine wichtige Rolle: Wie viel Zeit, bin ich bereit in Kauf zu nehmen, bis ich mein (geteiltes) Fahrzeug erreiche? Wie kurzfristig benötige ich ein Fahrzeug in 99% der Fälle? Oder andersherum gefragt: Wie viel Zeit verbringe ich täglich mit der Suche nach einem Parkplatz?

Natürlich wird es nicht für alle funktionieren. Aber ich behaupte, dass es für mehr Menschen funktionieren kann, als wir annehmen.

Mehr körperliche Bewegung

Diese Idee gilt nicht für alle Menschen gleichermaßen, da sich nicht alle Menschen ohne Hilfe barrierefrei bewegen können. Für alle anderen stelle ich einfach mal die Frage in den Raum: Darf es nicht auch öfter der Fußbus oder das Fahrrad sein?

Bei dieser Frage höre ich oft den Einwand, dass dies zeitlich nicht möglich sei oder sich nicht in den Alltag integrieren lässt. Naturgemäß sehe ich das anders und frage mich, wie wir es möglich machen können. 😌

Auch hier lautet ein Schlüsselwort Lebensqualität. Wenn ich körperliche Bewegung als notwendiges Übel betrachte, werde ich dem Fußbus wahrscheinlich nichts abgewinnen können. Wenn ich mich in meiner Freizeit hingegen mehr bewegen möchte, kann ich das im Alltag auch anstelle von Laufeinheiten auf dem Laufband tun. Wenn ich mit Sport auf dem Kriegsfuß stehe, täte ich wahrscheinlich gut daran, eine Art von körperlicher Ertüchtigung zu finden, die mir Freude bereitet, um meinen Körper möglichst lang in Schuss zu halten und mein Leben genießen zu können.

Es muss nicht immer die ausufernde Sporteinheit sein, für die ich extra Zeit freischaufeln muss. Manchmal lässt sich das Angenehme auch mit dem Nützlichen kombinieren und ich lege Wege selbst zurück, statt motorisierte Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen. Das setzt natürlich voraus, dass der Weg, den ich gehe, auch angenehm ist. An einer vielbefahrenen Hauptstraße würde ich auch nicht gern zu Fuß unterwegs sein. In einer verkehrsberuhigten Zone oder gar autofreien Gasse hingegen eher.

Wetter ist freilich immer ein Thema, aber auch hier gibt es Abhilfe: Kostengünstig in Form von Regenponchos. Etwas kostenintensiver in Form von nachträglich installiertem Wetterschutz. In der Luxusvariante als Fahrrad mit Karosserie und gegebenenfalls sogar Ladefläche – immer noch günstiger und platzsparender als ein Auto.

Mehr Restriktionen?

Per se halte ich sie erstmal nicht für sinnvoll, sondern plädiere für genaue Betrachtungen, was wie wirkt. Allerdings springt es förmlich ins Auge, wie sehr Individualverkehr aktuell in Deutschland forciert wird.

Hier treffen Mentalitäten aufeinander, die sich beispielsweise wunderbar in der Straßenbahnkarte Berlins zeigen: Westberlin legte einen stärkeren Fokus auf Straßenverkehr, Ostberlin hingegen auf Straßenbahnen. Das wurde auch in über 35 Jahren nach Mauerfall noch nicht ausgeglichen und ist heute sichtbar.

Die europäische Autowirtschaft lebt davon, Autos zu verkaufen, nicht zu verleihen. Damit steckt sie nicht nur technisch, sondern auch wirtschaftlich noch in Denkmustern des letzten Jahrtausends fest. Im Gegensatz zu den Vorständen scheinen deren Lobbyverbände ganze Arbeit zu leisten. Anders kann ich mir nicht erklären, dass kurzsichtige Fehlentscheidungen mit Millionengehältern und Subventionen belohnt werden, statt auf nachhaltigere Technologien und Geschäftsmodelle zu setzen.

Gleiches gilt für die Öl- und Gasindustrie. Menschen werden vor allem dann in erneuerbare Energieträger investieren, wenn sie das Gefühl bekommen, dass sich die Investition lohnen wird. Wenn man politisch und wirtschaftlich einen Schritt vor und zwei Schritte zurück macht (Stichwort: überdimensionierte neue Gaskraftwerke dank einer Lobbyistin als Bundesministerin), entsteht der gegenteilige Eindruck, was Innovationen künstlich aufhält. Auf lange Sicht wird uns das teuer zu stehen kommen.

An solchen Stellen halte ich (konsequente!) Restriktionen für angebracht.

Zurück zur Realität

Natürlich bin ich mir bewusst, dass unter der aktuellen Bundesregierung wahrscheinlich keine der obigen Anregungen auch nur ansatzweise umgesetzt werden wird. Aber oft hilft es ja schon etwas, die Diskussion am Leben zu erhalten, damit man nicht das Gefühl völligen Stillstands (oder gar Rückschritts) bekommt.

Für eine gelingende Verkehrswende wären viele strukturelle Änderungen nötig. Doch manche Änderungen können wir durchaus auch auf persönlicher Ebene anstoßen.

Nun interessiert mich: Welche Anregungen hältst du für tragbar oder würdest sie dir sogar wünschen? Bist du auf ein eigenes Auto angewiesen? Falls ja, was bräuchte es, damit du guten Gewissens darauf verzichtest? In jedem Fall freue ich mich über rege Kommentare.

Alles Liebe
Philipp

Jerusalem, warum bist du so hügelig?

Ich laufe für mein Leben gern! Deshalb müssen meine Laufschuhe auch überall mit hin. Ich möchte ja schließlich nicht aus der Übung kommen. ;)

Daher ist es naheliegend, dass ich sie auch mit nach Israel genommen habe. Mittlerweile bin ich auch schon das ein oder andere Mal damit unterwegs gewesen und kann recht frei davon berichten – leider nicht nur Positives.

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Freie Straßen

Ich habe unlängst bemerkt, dass mich Verkehrslärm mordsmäßig aufregt. Und bei Straßenfesten spüre ich, wie sehr ich mich danach sehne, dass Autos wieder nicht mehr in jeden Bereich des öffentlichen Lebens vordringen können. Weiterlesen