Alt werden

Die nächsten Tage und Wochen geht es in unserem Kulturkreis wieder viel um den Tod und gewissermaßen auch das Leben danach. Man kommt quasi gar nicht umhin, sich zu fragen, wie man selbst zum Tod steht und wie alt man eigentlich werden möchte. Wie würdest du darauf antworten?

Ehrlich gesagt empfinde ich diese Frage als seltsam, denn es liegt ja gar nicht wirklich innerhalb meines Machtbereichs, wie lang ich lebe. Natürlich kann ich sehr viel dafür tun, meine Gesundheit möglichst lang aufrecht zu erhalten. Doch es gibt einigen Faktoren, die ich nicht beeinflussen kann, beispielsweise meine Genetik.

Intuitiv antworte ich auf die Frage, wie alt ich werden möchte, gern mit: “125 Jahre, damit ich meine Midlife-Crisis mit 62,5 Jahren haben kann.” Doch wenn ich dann mal genauer darüber nachdenke, mag ich mir auch nicht vorstellen, mit 125 Jahren plötzlich das Zeitliche zu segnen. Strebe ich also im Grunde nach Unsterblichkeit?

Und ehe ich versehe, befinde ich mich in ethischen, moralischen, philosophischen und spirituellen Diskussionen! Ehrlich gesagt finde ich den Gedanken von Unsterblichkeit ebenso faszinierend wie ganze Generationen vor uns. Viele Weltreligionen basieren genau auf dieser Faszination. Doch, obwohl ich das Thema interessant finde, habe ich mit Religion nichts (mehr) am Hut. Denn wenn der Preis für Unsterblichkeit wäre, mit ebendiesen religiösen Menschen für immer und ewig zusammen zu leben, kann ich ruhigen Gewissens dankend ablehnen.

Außerdem gibt es von wissenschaftlicher Seite – abseits der Machbarkeit – einige ethische und moralische Aspekte, die gegen Unsterblichkeit sprechen:

  • Für unseren Planeten wäre es überhaupt nicht zuträglich, wenn wir Menschen, vor allem des globalen Nordens mit unserem hohen Ressourcenverbrauch, ewig leben würden und immer mehr Menschen nachkommen.
  • Stichwort immer mehr Menschen nachkommen: Es bräuchte früher oder später wahrscheinlich eine sehr strikte Geburtenregulation. Doch wer entscheidet dann, wer Kinder bekommen darf und wer nicht, wer unsterblich sein darf und wer nicht?
  • Es gibt Indizien dafür, dass sich zunächst vor allem reiche Menschen leisten könnten, unsterblich zu sein. Wenn manche Menschen dann jedoch plötzlich unsterblich wären, könnte dies die Schere zwischen arm und reich sogar noch weiter vergrößern und für noch mehr soziale Ungleichheit sorgen.

Darüber hinaus gibt es einige Menschen auf der Welt, beispielsweise Diktatoren, wo es Hoffnung stiftet, dass auch sie eines Tages das Zeitliche segnen werden. Diese Hoffnung gäbe es dann nicht mehr.

Unsterblichkeit würde also bestehende Ungleichheit zwischen den Menschen noch vergrößern und auch neue Dimensionen der Ungleichheit schaffen. Das ist gewissermaßen “das Schöne” am Tod: Er trifft alle Menschen gleichermaßen früher oder später und ist deshalb zumindest in dieser Hinsicht gerecht.

Man kann Unsterblichkeit natürlich auch aus einem evolutionären Standpunkt aus betrachten: Ohne Tod sind wir als Spezies nicht anpassungsfähig an die sich um uns herum verändernde Umgebung. Es gibt allerdings noch andere, persönliche Perspektiven die man auf Hinblick auf ein ewiges Leben und/oder hohes Alter nicht aus dem Blick verlieren sollte:

  1. Schwindende Gesundheit – Bei der Mehrheit der Menschen treten mit steigendem Alter vermehrt gesundheitliche Probleme auf. Was nützt ein ewiges Leben, wenn man gesundheitlich derart eingeschränkt ist, dass man sein ewiges Leben nicht mehr selbstbestimmt führen kann, sondern gegebenenfalls rund um die Uhr im Krankenbett verbringt?
  2. Budgetäre Engpässe – Wer soll eigentlich für solch ein ewiges Leben bezahlen? Das Rentensystem ist schon jetzt überfordert, weil es grundlegende konzeptionelle Schwächen aufweist, während Altersarmut für immer mehr Menschen ein relevantes Thema wird. Wie soll man also über die Runden kommen, wenn man wesentlich mehr Zeit seines ewigen Lebens im Ruhestand verbringt, als erwerbstätig zu sein? Oder wie funktioniert Erwerbstätigkeit vom Krankenbett aus?
  3. Ewige Langeweile – Was ist ein Tag wert, wenn ich weiß, dass ich noch unendlich viele weitere haben werde? Sämtliche Werke, die sich mit Unsterblichkeit beschäftigen schildern ein ähnliches Problem: Die Unsterblichen langweilen sich ganz fürchterlich, weil es irgendwann nichts Neues mehr für sie gibt.
  4. Intergenerationale Distanz – Bereits jetzt besteht eine große Herausforderung darin, mit zunehmendem Alter den Anschluss in der Gesellschaft und an jüngere Generationen nicht zu verlieren. Wie schwierig wird das erst, wenn man mehrere hundert Jahre älter ist, als die Menschen um einen herum?
  5. Vereinsamung – Viele ältere Menschen leiden unter dem Phänomen, dass alle Menschen, die ihnen lieb und teuer sind, um sie herum wegsterben. Wie lang hält man diese Erfahrung wohl aus, wenn noch nicht alle Menschen unsterblich sind?

Uff, das sind dann doch einige Aspekte, die gegen ein ewiges Leben sprechen. Denn wir wollen gar nicht nur ewiges Leben, sondern auch noch ewige Jugend mit dazu! Wie so oft gibt es auch hier ein passendes Zitat, was es ganz wunderbar zusammenfasst:

Alle wollen alt werden, aber keiner will es sein.

– Gustav Knuth

Sind also selbst 125 Jahre zu hoch gegriffen? Lass es mich so formulieren: So lang ich würdevoll und selbstbestimmt leben kann, bin ich für jeden weiteren Tag dankbar und zu haben. Wenn ich mich so umschaue, hege ich jedoch meine Zweifel, ob wir dazu als Gesellschaft zu einem würdevollen Umgang mit Alter in der Lage sind. Zumindest aktuell sind wir davon noch weit entfernt. Doch das ist ein Thema für sich.

In diesem Sinne: Happy Halloween / Samhain / Día de Muertos!
Philipp

Handverlesen in 2022

Ehrlich gesagt verstehe ich immer diese Jahresrückblicke nicht, die vor Ablauf eines Jahres präsentiert werden. Denn theoretisch können ja bis zum ersten Glockenschlag des neues Jahres noch bedeutsame Ereignisse geschehen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, das alte Jahr wirklich komplett verstreichen zu lassen, bevor ich es einmal Revue passieren lasse und mir in Retrospektive anschaue, welche Momente die für mich prägendsten waren. Gleichzeitig gebe ich damit meiner Reihe Handverlesen ein neues Format: Mein Jahresrückblick in 12 Teilen.

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Alles hat ein Ende

Heute Nacht ist es wieder so weit: Die Wintersonnenwende findet statt – und damit für mich ein besonderes Ereignis: Die Tage werden endlich wieder länger und läuten das Ende des Winters ein. Doch es ermahnt mich auch.

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Der Unsinn des Lebens

Bereits in der Schule werden wir dazu angeregt, über den Sinn des Lebens zu sinnieren. Die richtige Antwort gibt es dabei nicht. Trotzdem versuche ich es mit einem Gegenvorschlag.

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Loslassen lernen

Wenn es unangekündigt so ruhig auf meinem Blog ist, wie es die vergangenen Wochen der Fall war, indiziert dies gewöhnlich, dass in meinem Leben dafür umso mehr passiert. Dieses Mal handelte es sich dabei um eine Aneinanderreihung von Zäsuren. Auf Details möchte ich an dieser Stelle verzichten. Jedoch ist mir etwas klar geworden.

In den letzten zwei Monaten wurde ich wiederholt zum Loslassen gezwungen. Dabei fiel mir jedes Mal auf, wie schwierig uns Menschen im Allgemeinen und mir im Speziellen das Loslassen fällt, wenn dies nicht freiwillig geschieht. All die Jahre einer nomadischen Lebensweise, nahezu ein Jahrzehnt, das ich mich mit Minimalismus beschäftige, unzählige Abschiede, die ich in dieser Zeit erfahren habe, und noch immer fällt es mir ungeheuerlich schwer loszulassen, wenn ich nicht selbst die Entscheidung treffe, sondern sie mir von außen auferlegt wird.

Wenn ich in den vorangegangenen acht Wochen etwas gelernt habe, dann ist es das Folgende:

Eines Tages müssen wir alles gehen lassen – ob wir bereit sind oder nicht.

Alles, was wir besitzen, wird irgendwann kaputt gehen.

Alle Menschen, die wir kennen, entwickeln sich auch ohne unser Zutun weiter, sodass sich unsere Wege eines Tages scheiden, auch wenn wir das selbst nicht wollen.

Auch wir selbst stehen nicht still, weshalb sich sowohl unsere Körper als auch unsere Geiste eines Tages nicht mehr dem Bild entsprechen, das wir von uns selbst haben.

Alle uns nahestehenden Wesen verlassen uns eines Tages, wenn ihr Leben ein Ende findet.

Am Ende, wenn wir uns eigenes Leben verlassen, werden wir auch von alledem loslassen müssen, was wir bis dahin mit uns getragen haben, und uns von unseren Liebsten für immer verabschieden.

Kein Problem stellt es für mich dar, mich von physischen Objekten zu trennen. Menschen weiterziehen zu lassen, die sich dazu entscheiden, in Zukunft nicht mehr gemeinsam das Leben zu bereisen, habe ich im Laufe der Jahre gelernt. Lange fiel es mir schwer, von meinen eigenen Zielen abzulassen. Doch immer, wenn ich von einem geliebten Wesen Abschied nehmen muss, verkriecht sich Hyperambition-Philipp in den Hintergrund und an seiner statt kommt Nihilismus-Philipp hervor. Dass mein Körper sich nicht notwendiger Weise nach meinen eigenen Vorstellungen verändert, Grenzen hat und nicht unverwundbar ist, muss ich nicht nur akzeptieren, sondern im Zweifel auch bei Entscheidungen einbeziehen, wenn ich seinen Verfall nicht noch mehr beschleunigen möchte.

Womöglich hilft mir das künftig ja auch dabei, den Moment noch mehr zu schätzen? Denn schlimmer geht es immer. Doch das mag ich mir jetzt lieber noch nicht vorstellen.

Wars das jetzt?

Letztes Jahr wurde ich 30 Jahre alt. Eine Midlife-Crisis habe ich zwar nicht verspürt, aber meinen Status quo habe ich dennoch hinterfragt.

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Handverlesen im Sommer 2021

Was für ein Sommer! Heuer habe ich mir besonders viel Zeit für mich genommen. Trotzdem verging er wie im Flug. Hier kommt mein Rückblick.

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Handverlesen im Herbst 2019

Die wenigen Blätter, die noch letzten Widerstand leisten und als letzte mit ihren fragilen Stielen an den Ästen hängen, zeigen unerbitterlich, dass der Winter direkt vor der Tür steht. Das Gute daran: Es ist Zeit für die Herbst-Revue.

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Handverlesen im Frühling 2019

Sicher bin ich mir zwar ob des wechselhaften Wetters noch nicht, ob der Frühling denn tatsächlich schon vorüber sein soll. Doch die hochsommerhaften Hitzewellen lassen keinen Zweifel zu: Jetzt ist Sommer. Und das war mein Frühling.

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Die Wurzel vielen Übels

Was fällt dir als erstes ein, wenn du an das Wort Zeit denkst? Die Uhrzeit? Vorfreude auf den kommenden Urlaub? Oder all die Dinge, für die du meinst, keine Zeit zu haben?

Bei mir löst sie, oder besser gesagt unser Umgang mit ihr, ambivalente Gefühle aus, denn täglich erfahre ich am eigenen Leib, wie viele Entscheidungen wir aufgrund einer simplen Frage zu Ungunsten der damit einhergehenden Folgen treffen.

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