Handverlesen in 2022

Ehrlich gesagt verstehe ich immer diese Jahresrückblicke nicht, die vor Ablauf eines Jahres präsentiert werden. Denn theoretisch können ja bis zum ersten Glockenschlag des neues Jahres noch bedeutsame Ereignisse geschehen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, das alte Jahr wirklich komplett verstreichen zu lassen, bevor ich es einmal Revue passieren lasse und mir in Retrospektive anschaue, welche Momente die für mich prägendsten waren. Gleichzeitig gebe ich damit meiner Reihe Handverlesen ein neues Format: Mein Jahresrückblick in 12 Teilen.

Im letzten Post von 2022 hatte ich es schon einmal geschrieben: Ehrlich gesagt bin ich erleichtert, dass es vorüber ist. Nein, es gab nicht nur düstere Momente. Aber die, die es gab, legten sich wie ein Mantel über den Rest des Jahres.

Januar

Der erste Monat des Jahres war der unbeschwerteste. Er war geprägt von viel Zeit mit Freund*innen, gutem Essen und Kulturreichtum. Letzteres äußerste sich nicht durch nur zahlreiche Kinobesuche sondern auch einem klassischen Konzert in der Berliner Philharmonie unter Dirigent Daniel Barenboim. Wie sich im weiteren Verlauf des Jahres herausstellte, handelte es sich um einen Glücksfall, diese Koryphäe noch einmal erleben zu dürfen.

Februar

Der Februar war für mich nicht nur vom Einmarsch Russlands in die Ukraine geprägt. Unsere Hündin Chanchu litt an Blutarmut und ward in der Bauchregion aufgedunsen. Nachdem die Symptone zunächst rückläufig waren, kehrten sie am Abend des 22.02. schlagartig zurück und erforderten eine nächtliche Notoperation. Diagnose: Tumore auf der Milz. Entgegen der gedämpften Erwartung des behandelten Arztes überstand Chanchu den Eingriff und begrüßte uns am nächsten Tag wieder freudig. Die Tumore hatten sich jedoch schon im Körper ausgebreitet.

März

Während ich diese Zeilen schreibe, schießen mir Tränen in die Augen. Exakt drei Wochen dauerte es, bis wir Chanchu gehen lassen mussten. Seitdem fühlt sich unsere Wohnung leer an. Nur verlassen konnte ich sie zu dieser Zeit nicht, da ich mich wegen Corona in Quarantäne befand. Das waren furchtbare Wochen. Unsere gemeinsame Zeit war sehr kurz, aber das genügte schon, damit sie mir an Herz wuchs. Abgeschlossen habe ich damit bis heute nicht. So dankbar ich für die vielen schönen Momente mit ihr bin, so traurig bin ich auch darüber, dass wir keine weiteren mehr erleben dürfen. Noch immer fällt es mir schwer, in den guten Erinnerungen zu schwelgen, ohne den letzten Tag ebenfalls heraufzubeschwören. Und dennoch würde ich alles wieder so machen.

Früher dachte ich, dass Trauerverarbeitung mit zunehmenden Alter einfacher werden würde, weil man sich mit jedem Tod mehr daran gewöhnte und lernte, damit umzugehen. Aktuell empfinde ich eher das Gegenteil: Mit jedem Verlust eines lieb gewonnenen Wesens fällt es mir schwerer. Jedes Mal kommt ein Stückchen Trauer hinzu, das bleibt und und auf mir lastest, sodass es unmöglich scheint, wieder so unbeschwert zu leben wie zuvor. Chanchu kannte ich sieben Jahre und lebte davon in Summe etwas anderthalb Jahre mit ihr zusammen. Wie schwer muss dann erst der Verlust von Partner*innen sein, mit denen man Jahrzehnte an Lebenszeit teilt?

April

Nach drei Jahren schaffte ich es endlich mal wieder nach München und war verwundert, wie stark sich die Stadt gewandelt hat. Über Ostern gab es ein großes Wiedersehen mit einem Teil meiner Familie: Anlässlich der Feier zum 70. Geburtstag meines Opas mieteten wir uns in das die betriebliche Erholungshütte in Benediktbeuern ein. Bei solchen gemeinsamen Ausflügen lässt sich prima Kraft tanken. Ebenfalls kraftvoll war das langersehnte Konzert von Woodkid, welches nach zweimaliger Verschiebung endlich stattfinden konnte und komplett begeisterte.

Mai

Im Mai ging es auf Reisen: Zunächst begab ich mich über Himmelfahrt mit Kajak nach Halle und paddelte von dort aus die Saale entlang. Im Anschluss besuchte ich ein vorerst letztes Mal eine liebe und langjährige Freundin in Warschau, bevor sie von dort wegzog. Damit ging eine Ära zu Ende. Auf dem Rückweg statte ich noch der Stadt Poznán einen Besuch ab.

Juni

Der erste Sommermonat steckte voller Überraschungen: Zunächst eine Überraschungsfeier anlässlich meines Geburtstags, obwohl ich nicht feiern wollte. Schön war es umso mehr. Dann mein erstes Musikfestival, nämlich das Tempelhof Sounds mit angekündigtem und Überraschungsbesuch. Am 21. folgte eine äußerst fetzige Fête de la Musique. Und schließlich gab es noch eine lang ersehnte Wiedervereinigung mit meiner Darmstädter WG in Quedlinburg.

Juli

Viel Zeit für Vorbereitungen gab es zwar meinem Empfinden nach nicht, aber gefühlt drehte sich wochenlang alles nur um die Vorbereitungen für unsere Reise nach Israel und die damit verbundene Hochzeit meines Quasi-Schwagers, was gleichzeitig meine erste jüdische Hochzeit werden sollte, und mit vielen familiären Wiedersehen verbunden war. Gleichzeitig führten Inflation und Kurswechsel dazu, dass dies die teuersten zwei Wochen meines Lebens werden sollten. Bis jetzt.

August

Kaum aus Israel zurück erwischte mich Corona ein zweites Mal. Glücklicherweise kurierte ich rechtzeitig aus, bevor Cousine und Cousin mit Anhang zu Besuch kamen. Und schließlich gab es noch die lange Nacht der Museen. Selbst für mich als äußerst ausdauernden Museumsgänger ward die Nacht sehr lang.

September

Ursprünglich wollte ich im September mit Interrail nach Griechenland fahren. Da mir jedoch nicht genügend Urlaub gewährt wurde, disponierte ich spontan um und fuhr stattdessen nach Italien. Dort fand ich einen Höhepunkt nach dem anderen: Die malerische Zugfahrt, Venedig, die Biennale, Florenz und schließlich lernte ich nicht nur neue Bekanntschaften kennen, sondern traf überraschend auch alte auf einem Weingut in der Toskana. (Als wäre das Weingut nicht schon ein Höhepunkt für sich gewesen…)

Oktober

Mit dem Herbsteinzug in Berlin kam plötzlich auch viel Besuch, unter anderem Quasi-Schwägerin und mein weiterer Dresdner Mitbewohner. Dieser zog ins Berliner Umland, womit meine erste WG so nah beieinander wohnt wie seit über zehn Jahren nicht mehr. Außerdem durfte ich den aktuellen Prototypen meines nächsten Kajaks probieren. Und schließlich genossen wir noch ein wunderbares Wochenende in Weimar.

November

Nachdem das Arbeitspensum in den letzten Wochen schon stark angestiegen war, spitzte es sich im November dann komplett zu. Aufgelockert wurde das nur durch eine Reunion von Schulfreundinnen in Berlin und einen traditionellen Spielemarathon zum Geburtstag eines langjährigen Freundes aus Schulzeiten.

Dezember

Der letzte Monat des Jahres war für mein Empfinden viel zu geschäftig. Entsprechend genoss ich die intime Geburtstagsfeier meiner Mutti in Leipzig sowie die Feiertage im Kreis der Liebsten mit viel gutem Essen, Spaziergängen und vielen Spielen. Vorher setzte ich jedoch noch einen Veränderungsprozess in Bewegung, damit 2023 anders laufen kann. #qday

Das war also 2022 im Schnelldurchlauf. Leicht fiel mir Text nicht, aber ich bin froh, ihn mir von der Seele geschrieben zu haben. Welche Momente prägten dein Jahr 2022?

Alles Liebe
Philipp

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Handverlesen.

3 Kommentare

Antworten

  1. Hallo Philipp,

    Danke für diesen ausführlichen Bericht. Es tut mir leid, dass so viele schwere Momente dabei waren.
    Mein 2022 war irgendwie sehr -mittelmäßig – und das hat mich irgendwie gestört. Es ist relativ uninspiriert und eher passiv dahin geplätschert und das möchte ich 2023 gerne wieder anders haben.
    Highlights waren, wie so oft, Reisen. Besonders Schottland, obwohl es nur 1 Woche war, hat einen festen Platz in meinem Herzen. Es ist schon seit Jahren ein wichtiger Ort für mich.

    In der Rückschau habe ich erschrocken festgestellt, wie wenig Kultur ich 2022 aufgesucht habe. Vielleicht ist das mit ein Grund für meine tendenzielle Unzufriedenheit gewesen…Museen, Theater und Co sind doch immer Erfahrungen, die mich sehr aufladen.
    Ein Konzert mit einem jungen Chor aus Bulgarien hat mich zumindest sehr begeistert und auch im Nachhinein noch beschäftigt. Und ein Museums Besuch in Linz war auch sehr gut. Ebenso der Besuch von Dark Matter in Berlin. 2023 gern wieder viel mehr davon…

  2. Moin Philipp,
    dein Verlust tut mir so leid und ja es stimmt, je älter man wird umso schwerer und länger wird es die Trauer zu verarbeiten. Warum das so ist, keine Ahnung, ich hätte auch immer gedacht, es müsste leichter gehen mit dem Alter, ist aber nicht so.
    Mein 2022 war durchweg positiv, ein Highlight war auf jeden Fall das Iron Maiden Konzert im Sommer, am heißesten Tag des Jahres :-D es war trotzdem super und ich habe es so genossen. Endlich mal wieder ohne Angst und Panikattacken, einfach unterwegs sein, auf ein Konzert gehen. Das war so lange Jahre nicht möglich durch die Angststörung und Depression.

    Ich wünsche dir ein schöneres Jahr 2023, liebe Grüße!

  3. Ich danke euch für eure Anteilnahme!

    Womöglich stört uns alle dieses Dahinplättschern und Vor-sich-Hinleben in monotoner Mittelmäßigkeit angesichts der eigenen Endlichkeit? Mich verfolgt das Gefühl zumindest schon eine Weile, dass ich doch gern mehr aus meiner Lebenszeit machen würde.

    Schön finde ich, dass uns die Retrospektive auch aufzeigt, welche guten Erfahrungen einem widerfahren sind und dass diese zumindest quantitativ überwiegen, wobei ich hier natürlich nur von mir selbst sprechen kann. Außerdem erfreut es mich, dass wir Kultur und Reisen als Höhepunkte teilen und künftig wieder mehr möglich sein wird – auch, weil die Pandemie allmählich verebbt.

    Liebe Grüße
    Philipp

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