Ursprünglich wollte ich diesen Beitrag über die Kleinstadt schreiben, in der ich aufgewachsen bin. Dass ich dieselben Erfahrungen eines Tages in der Bundeshauptstadt Berlin sammeln würde, hätte ich nicht erwartet. Doch Corona machte es wieder einmal möglich!

Während ich diese Zeilen schreibe, befand sich Berlin zwischenzeitlich beinahe wieder im Normalzustand. Lediglich die quasi nicht vorhandenen vergleichsweise wenigen Freizeitreisenden ließen erahnen, dass die sonst so quirlige Metropole relativ leer ist. Am stärksten fiel es mir auf, als ich von meiner diesjährigen Frühjahrsreise zurückkehrte: Der sonst so lebendige Hauptbahnhof war wie verwaist. In der gewöhnlich gefüllten Umgebung, war keine Menschenseele anzutreffen. Berlin wirkte wie ausgestorben. Ich befand mich in einem leichten Schock.

Keinen Menschen auf den Straßen zu treffen – nachts wie tags – war ich bis dato nur von meinen kleinstädtischen Lebensabschnitten gewohnt. Ungeachtet der Tatsache, dass sich dort wortwörtlich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, genoss ich allem voran die Stille und die Möglichkeit, keiner Menschenseele über den Weg zu laufen. Dieses Gefühl für eine Zeit lang in einer Metropole wie Berlin erleben zu können, war schon einzigartig.

Die situationsbedingte Schattenseite liegt auf der Hand: Eine Stadt so ganz ohne Menschen funktioniert auch wieder nicht. Dabei spreche ich noch nicht mal vom Flair einer Stadt, die nicht nur architektonisch, sondern auch durch die Anzahl und Interaktionen zwischen Menschen maßgeblich geprägt wird. Es geht um all die Möglichkeiten, für die Großstädte so oft gepriesen werden: Vielfältige kulturelle und unzählige Freizeitangebote, eine Bandbreite an Bars und Klubs und nicht zuletzt die Diversität unter den Menschen selbst werden erst durch die große Bevölkerung erreicht.

Kleinere Städte bekommen schon seit Jahrzehnten zu spüren, was passiert, wenn kaum noch Menschen in ihnen wohnen: Immer mehr Zentren von Klein- und Mittelstädten sterben aus, weil junge Generationen es in die Metropolen zieht. Besonders viele kulturelle Angebote rentieren sich dann finanziell nicht mehr, sodass sie eingestellt werden. Wenn Menschen davon ihre Brötchen finanzieren, ist das freilich auch verständlich.

Nun im November 2020 ist wieder Lockdown angesagt, wenngleich auch nur light. Tatsächlich fühlt sich vieles anders an als im Frühling: Die Tage werden zunehmend kürzer statt länger. Die ergriffenen Maßnahmen spalten die Meinungen der Bevölkerung stärker. Betreibende kultureller und kulinarischer Einrichtungen stöhnen ob dieser auf. Für einige wird es das letzte Aufatmen vor dem Todesstoß sein. Ingesamt gewinne ich den Eindruck, dass sich mehr Menschen auf den Straßen befinden. Verständlich, schließlich sehen wir uns alle nach etwas Tageslicht. Gelegentlich erahne ich eine neue Straßenkultur. Und wieder einmal erkenne ich, dass Kapitalismus ein sehr fragiles System ist, das uns nicht durch die Krise bringen wird.

Einerseits schätze ich das vielfältige Angebot in Großstädten, andererseits sehne ich mich nach der Ruhe einer Geisterstadt. Kann beides zusammen funktionieren? Meines Erachtens ja, denn das tat es ja bereits. Die Kinos meines Vertrauens spielten den Sommer über Filme, auch wenn die Säle so leer sind, dass es mir Tränen in die Augen jagt und ich mich frage, wie sich das finanziell für sie ausgeht.

Genau darin liegt ein Ansatz, wie es eben doch funktionieren kann: Wir sollten Dinge öfter tun, weil wir an sie und ihren Wert glauben, ohne zu hinterfragen, ob es sich finanziell lohnt. Wir sollten Dinge öfter tun, weil sie uns Freude bereiten, ohne nach einem geeigneten Geschäftsmodell zu suchen. Wir sollten Dinge öfter aus Prinzip tun, ohne sie auf ihre Wirtschaftlichkeit zu untersuchen. In einem kapitalistischen System stellt sich das als echte Herausforderung heraus. Aber es lohnt sich, sich ihrer anzunehmen, wenn auch nicht monetär.

Machst du mit?

Alles Liebe
Philipp

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Tagebuch einer Großstadt.