Für die vierte Etappe hatte ich die Strecke von Roudnice bis Lovosice veranschlagt. Doch wie sooft kam alles anders als geplant.
Den Tag begann ich zunächst mit einer Fototour durch Roudnice. Da es im Sporthotel kein Frühstück für mich gab, musste ich mich auf der anderen Seite der Brücke ohnehin noch auf Nahrungssuche begeben. Fündig wurde in einer klein anmutenden Bäckerei, wo ich einen Brownie, ein Schokoladencroissant, eine Plunder sowie ein Stück Mohnkuchen für unter fünf Euro erhielt. Leider sahen die Gebäckstücke besser aus, als sie schmeckten. Das verwunderte mich später auch nicht mehr, als ich herausfand, dass es sich bei der “kleinen Bäckerei” um eine Filiale eine landesweit operierenden Kette handelte, die ihre Backwaren nicht vor Ort sondern zentralisiert bäckt.
Roudnice ist nicht sehr groß, kann dafür aber mit recht vielen Türmen aufwarten, was mein Herz natürlich höher schlagen ließ! Ein wenig musste ich mich auch ermahnen, schließlich wollte ich endlich mal etwas früher ablegen. 10:40 gelang mir dies schließlich.
An der Schleuse von Roudnice wartete schon die erste Überraschung auf mich: Die Schleusenwärterin war weiblich. Eigentlich finde ich es traurig, dass ich das derart betone. Zuvor begegnete ich jedoch ausschließlich männlichen Schleusenwärtern und freute mich schon sehr, dass diese Männderdomäne zu bröckeln beginnt.
Auf dem nachfolgenden Streckenabschnitt passierten mich im Schnitt alle fünf Minuten Züge, was ich eigentlich gern mag. Doch in diesem Fall trübte der andauernde Lärm durch die langen Güterzüge etwas das Idyll. (Aber immerhin besser als Autos!) Hinzukam, dass ein starker Wind aufzog, weshalb es insgesamt ungemütlich wurde.
Das Passieren der zweiten Schleuse des Tages bei České Kopisty benötigte aufgrund ihrer Größe recht lang. Zu allem Überfluss setzte dann auch noch Regen ein. Deshalb legte ich direkt im Anschluss an die Schleuse eine Pause ein, um den Poncho überzuzuiehen und die übrigen Gebäckstücke zu verzehren. Da der Regen noch eine Weile anhalten sollte, beschloss ich, die Tagesetappe bereits in Litoměřice zu beenden.
Diese Entscheidung sollte ich nicht bereuen, denn dadurch konnte ich die Stadt und ihre Umgebung noch bei Tageslicht erkunden. Doch zuerst ging es in meine Pension. Hierzu musste ich mit meinem Kajak die engen Gassen der Stadt hinauf – zum Glück nicht wieder auf den höchsten Punkt der Stadt. Das Einchecken in der Pension lief voll automatisch: Via E-Mail erhielt ich unmittelbar nach Buchung alle Instruktionen. Der Schlüssel befand sich in einem mit Zahlenschloss gesicherten Schlüsselkasten, dessen Code ich ebenfalls via E-Mail erhalten hatte. Allerdings gab es augenscheinlich keinen Platz für mein Kajak, weshalb ich mich schweren Herzens entschied, es abzubauen und mit auf Zimmer zu nehmen. Bei der Gelegenheit konnte ich es gleich einmal reinigen. Nach diversen Gängen treppauf und -ab ward es schnuckelig eng in meinem Zimmer.
Wie ich herausfand, lag auf der anderen Flussseite in fußläufiger Reichweite die Start Terezín – in deutscher Sprache besser bekannt als Theresienstadt. Da ich schon einige Male davon gelesen hatte, wie diese Stadt von den Nazis als internationales Vorzeigemodell für ihren “Umgang” mit der jüdischen Bevölkerung genutzt wurde, fragte ich mich, wie viel davon heute noch zu sehen und zu spüren war.
Als ich die Stadt jedoch erreichte, erschrak ich aus einem ganz anderen Grund: Die Befestigungsmauern kamen mir aus der Netflix-Serie Freud, an der ich gearbeitet hatte, bekannt vor: Zu Beginn der dritten Folge findet dort ein Duell statt. Es irritierte mich ein wenig, dass dies während meiner Arbeit an der Serie nie thematisiert wurde.
Der Grund, weshalb sie ausgewählt wurden, offenbarte sich mir jedoch nur kurze Zeit später. Als ich Terezín und ihre Struktur sah, stellte ich mir zunächst vor, wie gut es zu Nazis passt, einen Ort derart rasterartig anzulegen. Darin liegt jedoch nicht der Grund, denn Terezín wurde von den Nazis nicht errichtet, sondern zweckentfremdet. Bereits Ende des 18. Jahrhundert wurde die Stadt als österreichische Festung errichtet. Ihre geordneten Strukturen stammen aus ihrer Geschichte als Garnisonsstadt.
Erst ab 1940 wurde Theresienstadt durch die Nazis zunächst zum Gestapo-Gefängnis und schließlich auch Ghetto und Konzentrationslager. Es gibt viel zu viele leidgeprägte Geschichten um die Stadt im Konkreten und den Holocaust im Allgemeinen. Allein ihre Fülle lässt mir immer wieder den Atem stocken. Die Verstrickung Theresienstadts in den Holocaust empfinde ich jedoch als besonders perfide. Denn es wurde nicht nur dem Internationalen Roten Kreuz als “Vorzeigemodell” für den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung gezeigt. Die Insassen wurden auch dazu gezwungen, in einem als “Dokumentarfilm” getarnten Propagandafilm (Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet) mitzuspielen und entgegen der grausamen Realität den Anschein von einem normalen Alltagsleben zu erwecken. Der ebenfalls zur Arbeit gezwungene jüdische Regisseur Kurt Gerron wurde nach dem Abschluss der Arbeiten am Film nach Auschwitz deportiert und dort ermordet – wie die meisten der im Film zu sehenden Menschen.
Im Anschluss an den zweiten Weltkrieg wurde es bis 1948 weiterhin von der Tschechoslowakei als Internierungslager für zu vertreibende Deutsche verwendet. 1946 kehrten schließlich die ersten tschechischsprachigen Zivilist*innen zurück. Heute ist Terezín eine kleine beschauliche Stadt, die unter dem Schatten ihrer Vergangenheit leidet, aufgrund derer kaum jemand dort wohnen mag. Umso erstaunlicher empfand ich es, dass es eben doch wenige hunderte Menschen gibt, die versuchen, hier ein normales Leben zu führen.
Für mich selbst kann ich es mir nur schwer vorstellen, wenn man immer wieder Orte sieht, die man zuvor nur vom Propagandafilm kannte. Andererseits empfinde ich Bewunderung dafür, dass es Menschen gibt, die den Spagat zwischen Mahnmal und dem Versuch, Terezín nicht nur auf den grausamen Teil der Geschichte zu reduzieren – auch wenn dies teilweise absurde Züge annimmt, wenn man plötzlich auf eine Alpakafarm inmitten der Stadt stößt. In welch widersprüchlicher Lage sich die Stadt befindet, wird meines Erachtens in dieser Reportage von Arte sehr gut dargestellt:
Für Mahn- und Aufklärungszwecke gibt es in Terezín einige wichtige Einrichtungen und Denkmäler, unter anderem:
- Das Ghetto-Museum, welches über das Leben im Ghetto sowie die Rolle Theresienstadts als “Vorzeigeghetto” Einblicke gibt.
- Die Gedenkstätte Theresienstadt in der Kleinen Festung dokumentiert die menschenverachtenden Umstände in Gefangenschaft. Direkt davor befinden sich der jüdische Friedhof sowie der Nationalfriedhof.
- Die Gedenkstätte an der Eger erinnert an die Asche von mehr 20.000 jüdischen Opfern, die von den Nazis in den Fluss geworfen wurden.
Während meines Aufenthalts konnte ich von allen dreien nur einen ersten Eindruck gewinnen, doch keine in dem Umfang besuchen und erfassen, die erforderlich gewesen wäre. Am eindrücklichsten empfand ich die Tatsache, dass heute in Terezín Menschen wieder ganz gewöhnlich wohnen, und den Rückweg, auf dem ich an der Gedenkstätte an der Eger vorbeikam. Da ich noch eine Weile entlang des Flusses wanderte, begleiteten die Eindrücke meine Gedanken wie das Wasser neben mir.
Terezín verließ ich mit einem flauen Magen und stark gedrückter Stimmung. Dennoch möchte ich noch einmal zurückkehren. Dann allerdings mit mehr Zeit, die die Stadt definitiv verdient.
Alles Liebe
Philipp
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Mit dem Kajak von Prag nach Dresden.