Gegen das Vergessen

Den Titel dieses Beitrags hast du wohl schon hunderte Male irgendwo gehört, gelesen oder anderweitig aufgeschnappt – sehr wahrscheinlich im Kontext des Holocaust. Letzte Woche ist mir jedoch bei einem entspannten Mittagspausengespräch ein bei Weitem nicht so entspannender Gedanke gekommen: Wir (Menschen) vergessen ständig das Leid anderer – völlig unbeabsichtigt. Doch was lässt sich dagegen tun? Mit bloßer Dokumentation ist es meiner Meinung nach nicht getan.

Heute ist in Israel Yom Zikaron – der nationale Gedenktag. Im Gegensatz zum Yom HaShoa (dem Holocaust-Gedenktag) wird hier nicht den Opfern des Holocaust, sondern Menschen, die bei der Verteidigung des Landes ihr Leben verloren haben, gedacht. Beide Tage sind in Israel von einer Gedenkkultur geprägt, wie ich sie mir auch für Deutschland wünschen würde. Aktuell erlebe ich aber eher eine gegenläufige Entwicklung.

Diesem Beitrag vorangegangen sind ein paar Erlebnisse, von denen mir jedes einzelne einen kleinen Stich versetzte:

  • Auf meinen Beitrag zum Nahostkonflikt, der zu mehr Menschlichkeit im Umgang miteinander aufruft, folgten einige antisemitisch motivierte Anfeindungen.
  • Margot Friedländer, 102-Jährige Holocaustüberlebende, die sich über Jahrzehnte hinweg der Aufgabe verschrieben hat, über den Holocaust aufzuklären und religionsbasierte sowie rassistische Ressentiments zwischen Menschen abzubauen, hat eine zutiefst bewegende und respektierte Rede bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises verliehen. Gleichermaßen ist mir bewusst geworden, dass die Tatsache, dass sie in ihrem Alter dazu noch in der Lage ist, an ein Wunder grenzt.
  • Bei besagtem Mittagessen ging es um die Trennung von Werk und Autor*in versus Cancel Culture. Persönlich fühle ich mich diesbezüglich hin- und hergerissen. Ab wann ist es vernünftig, Autor*innen zu boykottieren, weil eine Grenze überschritten wurde? Was wird noch von Meinungsbildung abgedeckt? Und bleiben dann überhaupt noch Werke übrig, wenn wir von allen Autor*innen erwarten, Menschen ohne Fehler zu sein?

Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut, und wir müssen die Menschen respektieren. Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es sollte nie, nie, nie wieder passieren.

Margot Friedländer

Die einzelnen Punkte wären jeder für sich eine eigene Diskussion wert. Aber darum soll es hier nicht gehen. Denn das Mittagsgespräch ging noch weiter und hinterließ einen bleibenden Eindruck bei mir:

Es liegt leider in der Natur der Sache, dass auch Zeitzeug*innen nicht ewig leben, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Mittlerweile gibt es dafür zahlreiche Dokumentationsprojekte. Teilweise werden aufwändige Technologien eingesetzt, um die Berichte von Zeitzeug*innen auch nach deren Ableben weiterhin zugänglich zu machen. Doch die reine Information der Berichte ist nur ein Aspekt. Ein wesentlich komplexerer ist der emotionale Wirkungsgrad. Und der geht – leider – allen Anstrengungen zum Trotz verloren.

Meine Erinnerung an die geteilten Erfahrungen von Holocaust-Überlenden in Israel haben mich nicht nur nachhaltig geprägt. Sie sind auch noch sehr frisch – allerdings nur für mich. Ich selbst könnte diese furchtbaren Eindrücke nie so weitergeben, weil ich es – zum Glück – nicht selbst erlebt habe. Zwar kann ich davon berichten, jedoch werde ich anderen Menschen nie auf dieselbe Tiefe emotional berühren können. Und dieser Prozess setzt sich von Generation zu Generation fort und wir vergessen mit jeder weiteren Generation ein Stück weit das Leid vorheriger.

Dabei rede ich nicht von den Fakten: Die reine Information über die Anzahl von Opfern wird wahrscheinlich erhalten bleiben. Doch die emotionale Verbindung wird verloren gehen. Damit wird zwar nicht unbedingt eine Verrohung einsetzen, aber sehr wohl eine Art Gleichgültigkeit. Wie ich darauf komme? Weil es bereits in der Vergangenheit passiert ist. Wieso sonst fühlen wir uns zu den Opfern des ersten Weltkriegs bereits weniger verbunden als zu denen des zweiten Weltkriegs?

Diese Reihe lässt sich noch weiter fortsetzen: Wie verbunden fühlen wir uns zu den Opfern von Sklaverei? Zu den Indigenen, die dank europäischen “Entdeckern” ihre Leben ließen? Den Gefallenen der Punischen Kriege in der Antike? Zahllose gewalttätige Auseinandersetzungen prägen die Geschichte der Menschheit. Doch wie viele davon betrachten wir davon wirklich als furchtbar und wie viele sind für uns nur Informationen aus einer längst vergangenen Zeit?

Freilich haben wir nicht die emotionale Kapazität, uns ständig jegliches Leid vor Augen zu führen. Dennoch graut mir davor, zu wissen, dass wir eines Tages gegenüber den aktuellen Kriegen dieselbe Gleichgültigkeit an den Tag legen werden, wie wir es bereits heute mit den Gräueln, die Menschen in früheren Zeiten widerfahren sind, tun. Für die reine Dokumentation haben wir heutzutage zwar nie da gewesene Möglichkeit. Aber meine Sorge gilt nicht der exakten Verfassung von Opferzahlen. Denn an der Technologie, um aktuelle Gräuel zu dokumentieren, mangelt es uns nicht. Wohl aber an der nötigen Empathie.

Darum lasst uns bitte nicht unser empathisches Vermögen vergessen. Denn durch Krieg verursachtes Leid ist immer schlimm – egal ob vor Tausenden von Jahren, jetzt oder in der Zukunft.

Alles Liebe
Philipp

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