Wer wars gewesen? – Die Frage nach der Schuld

Wenn etwas schief geht, schießt schnell eine Frage in den Raum: Wer ist Schuld daran? Zielführend ist das selten.

Das Thema Schuld kreist mir schon länger im Kopf rum. Dass es kein einfacher Sachverhalt ist, durfte ich spätestens 2019 erkennen, als ich mir zum Ziel genommen hatte, all meine Schulden zu begleichen. Zu Beginn dachte ich freilich nur an die finanzielle Schuld. Doch dann kam die Frage auf, was Schuld überhaupt im Allgemeinen bedeutet und wofür ich welche habe. Zum Glück gibt es den Duden, der solche Begriffe wunderbar definiert, und zwar wie folgt:

1. Ursache von etwas Unangenehmem, Bösem oder eines Unglücks, das Verantwortlichsein, die Verantwortung dafür
2. bestimmtes Verhalten, bestimmte Tat, womit jemand gegen Werte, Normen verstößt; begangenes Unrecht, sittliches Versagen, strafbare Verfehlung
3. Geldbetrag, den jemand einem anderen schuldig ist

Duden

Als ich mir das Ziel gesetzt hatte, ging es mir darum, meine finanziellen Schulden (BAföG, Darlehen etc.), komplett zu begleichen. So weit mir das möglich war, hatte ich das auch geschafft. Beim BAföG gibt es leider immer noch einen geringfügigen Restbetrag, weil es nicht zurückgezahlt werden kann, bevor das System eine Rückzahlungsforderung versendet. Warum diese nicht manuell und gebündelt versandt werden kann, wenn ich sogar schon darum bitte, bleibt mir ein Rätsel. Bis es so weit ist, bleibt mir nur, mich zwischenzeitlich mit den übrigen Arten von Schuld auseinandersetzen.

Schuld und Verantwortung

Die kausale Schuld tritt besonders oft in Wirtschaft und Politik auf. Läuft etwas nicht wie gewünscht, heißt es oft “Wer wars?” und zieht dann entsprechende personelle Konsequenzen nach sich. Meiner Erfahrung nach mag das zwar kurzfristig Besserung versprechen, stellt aber oft langfristig keine Lösung dar.

Wenn ich mich mit Zahnschmerzen an Dentist.innen wende, bekomme ich ja (zum Glück nicht mehr!) auch nicht einfach alle Zähne rausgezogen, denn dann könnte ich meine Nahrung nicht mehr selbstständig zerkleinern. Ebenso wenig erhalte ich Schmerzmittel, um mein Leiden zu mindern, denn dann würden mir dennoch nacheinander alle Zähne wegfaulen. Statt Symptome zu bekämpfen, geht man also die Ursache an und behandelt lediglich die von Karies behandelten Stellen, sodass möglichst viel natürliche Zahnsubstanz erhalten bleibt.

Menschen sind nicht perfekt und werden es niemals sein. Anstatt also Menschen auszutauschen, halte ich es für nachhaltiger, aus Missgeschicken zu lernen, Schwachstellen auszubessern, und Menschen dabei zu helfen, besser zu werden. Als Erwachsene tragen wir Verantwortung für unser aller Handeln. Daraus folgt für mich jedoch, dass es bei der Schuldfrage nicht heißen sollte “Das ging schief. Du bist raus!”, sondern “Das ging schief. Jetzt weißt du, wie du es beheben kannst.”

Verantwortung Einzelner vs. Systemschuld

Für meinen Optimierungswahn bin ich ja ein wenig bekannt. Allzuoft bezieht sich das auch auf Menschen, genau genommen einen einzigen Menschen, nämlich mich. Wenn es jedoch um das Aufspüren von Schuld geht, greift die Frage Wer war es? in meinen Augen viel zu kurz. Wenn man der wirklichen Ursache auf den Grund gehen will, lautet die Frage: Woran lag es? Daher empfinde ich es für gesünder, Systeme anstelle von Menschen zu optimieren.

Wir brauchen nicht mit dem Finger auf einzelne Personen und derer Fehlverhalten zeigen. Viel wichtiger ist die Entlarvung von strukturellen Schwachstellen. Das zeigt sich in mangelhaften Qualitätskontrollen innerhalb überlasteter Unternehmen mit erschöpfter Belegschaft, aber auch in unserer Gesellschaft als Ganzes, wenn es heißt, das müsse doch schneller, besser und billiger gehen. Viel zu oft wird dies zu lasten von Qualität, Menschen oder Umwelt gelegt – ohne dass wir als Individuum eine bewusste Entscheidung treffen. Die “Strafe” dafür (man könnte es auch schlichtweg als Konsequenz bezeichnen) trifft uns so oder so alle kollektiv.

Wenn ich plastikfrei einkaufen möchte, erreiche ich das nur in einem begrenzten Umfang: Das Produkt selbst mag im Regal in Papier verpackt steht oder sogar gänzlich ohne Verpackung angeboten werden. Doch wie ist es dorthin gelangt? Selbst wenn ich Erdbeeren in einem Pappkarton kaufe, ist es wahrscheinlich, dass das Erdbeerfeld mit Plastikfolie überzogen war, um die Früchte zu schützen und besser gedeihen zu lassen. Auch wenn ich es schaffe, für meinen persönlichen Bedarf komplett plastikfrei zu leben, sodass nicht mal mehr eine Kunstfaser in meinem Kleiderschrank verweilt, tragen dennoch weiterhin Milliarden von Menschen Synthetikkleidung, bei derer Reinigung Billionen von Fasern im Abwasser und schließlich in den Meeren und somit sehr wahrscheinlich auf unseren Tellern landen, nachdem Fische sie für Plankton gehalten und gefressen haben.

Hier offenbart sich das Paradoxon aus persönlicher Verantwortung und Systemschuld: Einerseits können wir nicht sämtliche Verantwortung an das System abgeben. Andererseits verpuffen all meine Anstrengungen als Tropfen auf einem heißen Stein, auch wenn ich mich als Einzelperson noch so stark darum bemühe, verpackungsfrei, emissionsarm und nachhaltig zu konsumieren, solang unser System weiterhin entgegengesetztes Verhalten begünstigt. Voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft sagen wir oft, dass alles gelingen wird, wenn nur genug Einzelpersonen richtig handelten. Das setzt jedoch auch voraus, dass das System eine freie Wahl zulässt, was derzeit nur begrenzt gegeben ist. Daher stellt sich die Frage, wieso das System dann nicht von vornherein so gebaut wird, dass es nur die Option sozial-ökologisch zulässt, wenn es uns schon so einen engen Rahmen steckt.

Ökologische Schuld

Das soll jedoch kein Anlass sein, sämtliche Verantwortung auf das System abzuwälzen. In unserem Alltag haben wir ausreichend Spielraum, die uns umgebenden Systeme zu verbessern. Entgegen der Definitionen aus dem Duden sehe ich noch weitere Arten von Schuld als nur die kausale, moralische oder finanzielle. Die wohl für uns imminenteste ist – mag es den vorherigen Absätzen schon entnommen haben – die ökologische.

Hier arbeitet unser System momentan leider gegen Menschen, die möglichst nachhaltig leben wollen – insofern das überhaupt möglich ist. Während unnachhaltige Produkte subventioniert werden, tragen alle, die es mit nachhaltigem Konsum versuchen, den tatsächlichen Preis selbst und werden so indirekt benachteiligt. Andernfalls wären nachhaltig oder gar unverpackte Waren finanziell günstiger als in Plastik verpackte, Reisen mit dem Zug immer preiswerter als der äquivalente Flug. Mich nun zurückzulehnen, die Verantwortung an das System abzugeben und den Status quo hinzunehmen, wird die Situation jedoch in keiner Weise verbessern. Was mache ich also? Ich richte meinen Fokus auf die Bereiche, in denen ich sehr wohl die Wahl und damit auch ein kleines bisschen Macht habe.

Mein letzter Flug ist nunmehr ein Jahr her. Nach Israel gibt es leider keine Zugverbindungen. Trotzdem habe ich die Entscheidung, mich auf eine Beziehung mit einem Israeli einzulassen, selbst getroffen. Das war die wohl ökologisch unnachhaltigste Entscheidung meines Lebens, wenngleich eine sehr wichtige, die ich nicht rückgängig machen mag. Seit Ende letzten Jahres wohnen wir zusammen, brauchen also nicht mehr zu fliegen, um uns zu besuchen. Familie im Heiligen Land gibt es aber trotzdem noch.

Jede Flugreise ist eine Kaufentscheidung über unseren Verhältnissen, wenn wir uns CO2-Budget betrachten. Im Grunde wissen wir auch, was zu tun ist, um dem entgegenzuwirken: Das CO2 gar nicht erst verursachen oder, falls es unumgänglich ist, kompensieren. Trotzdem ich ökologisch recht bewusst lebe, habe ich bis dato keinen meiner Flüge kompensiert. Kompensation steht in der Kritik, Menschen des globalen Nordens ein grünes Gewissen zu erkaufen. Außerdem ist die Wirksamkeit stark umstritten. Ich halte es immer noch für besser, als gar nichts zu unternehmen und habe deshalb beschlossen, erst wieder zu fliegen, wenn ich meine bisherige CO2-Schuld beglichen habe.

Systematischer Umweltschutz

In meinen Augen sollte ein solcher Ausgleich automatisch bei dem Erwerb eines Flugtickets oder auch anderen Produkten geschehen. Eine Kompensationsabgabe, die zentral verwaltet dafür benutzt wird, das verursachte Kohlendioxid wieder zu binden sowie Schäden an der Natur wieder herzurichten, beispielsweise durch Wiederaufforstung. Durch eine zentrale Organisation ließe sich das viel einfacher verwalten und Konsument.innen bräuchte nicht erst davon überzeugt werden, freiwillig ihren zu hohen Konsum zu kompensieren. Stattdessen würde es über den Preis geregelt, wenn die tatsächlichen Kosten eines Fluges in der Gegenwart bezahlt werden anstatt es zukünftige Generationen ausbaden zu lassen. Insbesondere für optionalen, also nicht die Grundbedürfnisse betreffenden Konsum, sehe ich da gar kein Problem.

Recycling klingt theoretisch toll. In der Praxis wird ein Großteil des Müll energetisch verwertet, also verbrannt. Das Problem entsteht bereits der Produktion von Materialien, die nicht natürlich abgebaut werden können. Einzelpersonen können das in ihrem Haushalt regeln. Auf die Unmengen an Müll, die auf dem Weg zum Geschäft ihres Vertrauens entstehen, haben sie jedoch keinen Einfluss. Hier können Gesetze und entsprechend eingesetzte Gesetzeshüter viel mehr erreichen.

Das sind nur zwei exemplarische Beispiele und momentan ebensolche Utopien wie die Vorstellung, dass ausreichend Einzelpersonen sich so weit geiseln, dass wir höchstens mit unseren CO2-Verhältnissen leben. Sie zeigen aber recht anschaulich, wie viel effizienter systematischer Umweltschutz wirken kann. Wenn wir Schwachstellen in einem System erkennen und beseitigen, nehmen wir plötzlich viele Einzelentscheidungen ab, die in der Summe verheerende Folgen mit sich bringen. Es wird allerdings noch einige Zeit ins Land vergehen, bevor solche Ideen umgesetzt werden. Bis dahin bleibt uns also nur, mit gutem Beispiel voran zu gehen und zu zeigen, wie es anders gehen kann.

Wie stehst du zur Schuldfrage? Suchst du eher bei dir selbst oder in den Umständen nach Ursachen? Schreib es gern in die Kommentare.

Alles Liebe
Philipp

2 Kommentare

Antworten

  1. Hallo Philipp,
    ein sehr spannendes Thema hast du dir da mal wieder ausgesucht. Dazu eines, was gar nicht so einfach beantwortet werden kann.
    Die Definition aus dem Duden finde ich schon hilfreich, wobei ich unter Punkt 3 nicht nur eine finanzielle Schuld nennen würde, sondern auch eine “Leistungsschuld” (mir fällt kein besserer Begriff dafür ein).
    Wobei hier der Begriff “Schuld” auch schnell Umgangssprachlich verwendet wird. Jemand macht etwas für einen und man reagiert mit “Ich stehe ewig in deiner Schuld” oder “Ich schulde dir ein Abendessen (oder so irgendetwas)” als Dankeschön. Oftmals bleibt es dabei und die “Schuld” zieht sich über Jahre hinweg.
    Ich frage mich allerdings, ob ich jemanden wirklich etwas “schuldig” bin, wenn man mir hilft ohne einen direkten Gegenwert (Geld, ebenfalls Hilfe,….) dafür verlangt. Wie kann ich von jemanden erwarten, dass er etwas für mich tut, nur weil ich ihm etwas gutes getan habe? Ich ertappe mich selber oft dabei, dass ich sagen “Du schuldest mir noch….”, aber ist es das wirklich? Nur weil man mal gesagt hat, dass man etwas tut?
    Das Schulden von Geld ist ganz klar eine Schuld die beglichen werden muss bzw. in die man, sofern irgendwie möglich, man erst gar nicht kommen sollte ;-)
    Bei der ökologischen Schuld… hier fände ich es sinnvoll, wenn man es tatsächlich nicht auf den Einzelnen sondern auf das System abwälzt. Wenn ich das auf den CO2-Ausstoß bei Flugreisen beziehe… es gibt bereits Airlines, die automatisch eine Kompensationszahlung pro Flug leisten und diese Kompensation in dem Flugpreis inkludiert ist. Dies finde ich sehr sinnvoll, denn so wird wirklich jeder Flug – zumindest ein wenig – kompensiert. Natürlich würden dann die Flugpreise ggf etwas steigen, was widerum aber auch den Ein oder Anderen doppelt überlegen lässt, ob der Flug nun erforderlich ist. Gerade die aktuelle Zeit zeigt ja auch sehr gut, dass wir mit deutlich weniger Flügen auskommen und nicht jede Reise von Notwendigkeit ist. Wenn dies langfristig Bestand hätte, und wir nicht früher oder später in den alten Trott zurück fallen (was meiner Meinung nach ganz bald passieren wird!), wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung getan.
    Liebe Grüße,
    Nicole

    • Hallo Nicole,

      vielen Dank für deinen umfangreichen Kommentar. :)

      Bei Gefallen wird das Konzept eines Gefallens meines Erachtens ad absurdum geführt, wenn man sie sich schuldet. Ist es dann wirklich noch ein Gefallen, den man sich erweist, oder bietet man eigentlich eine Dienstleistung an, die durch eine andere Dienstleistung bezahlt wird? Wenn da mal nicht der Kapitalismus übernommen hat und sogar nette Gesten verwirtschaftlicht. ;)

      Wenn die Kompensation tatsächlich direkt über das Ticket abgewickelt wird, wären wir wirklich schon einen großen Schritt weiter. Allerdings frage ich mich bei der Abwicklung via Airline, ob das Geld tatsächlich zur Kompensation genutzt wird. Einerseits erscheint mir der Betrag bei den Flügen zu niedrig. Andererseits ist nicht transparent ersichtlich, wie genau die Gelder verwaltet und eingesetzt werden. Wünschenswert wäre auf jeden Fall, dass diejenigen zahlen, die den Schaden anrichten.

      Lieber Gruß
      Philipp

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