Zum Henker mit der Tradition!

Dann und wann kommt es vor, dass Tradition und Werteerhalt als Argumente in allzu hitzigen Diskussionen verwendet werden. Ich halte das für Unfug.

Sowohl in trivialen Debatten um Feiertagsbrauchtum, als auch in politischen Diskussionen vielfältiger Art wird regelmäßig vom Scheinargument der Tradition Gebrauch gemacht. Das hört sich beispielsweise so an:

  • “Wie kann man denn nicht Weihnachten feiern? Das hat doch Tradition!”
  • “Wieso sollte ich auf diese exotische Gemüse setzen, wenn ich genauso gut mit traditionellen Sorten wie Tomaten zurecht komme?”
  • “Walfang gehört zu unserer Kultur und sollte deshalb nicht verboten werden.”
  • “Du wirst später Arzt wie schon dein Urgroßvater und alle nachfolgenden Generationen.”
  • “Wir haben ein Recht auf dieses Land! Schon unsere Vorfahren haben hier gewohnt.”

Das Wort Tradition entstammt dem Lateinischen tradere, was so viel wie überliefern oder übertragen bedeutet. Und im Grunde ist es auch nichts anderes als das: Wir geben bestimmte kulturelle Gepflogenheiten und Ansichten an die Folgegeneration weiter, woraus sich ein Teil unserer kulturellen Identität begründet. Tradition ist also keineswegs durchweg negativ.

Nichtsdestotrotz wird sie gern als Vorwand verwendet, um Fortschritt, sprich: Veränderung, aufzuhalten. Wie schon häufiger angemerkt, scheuen wir Menschen uns vor Veränderung, denn sie ist den seltensten Fällen bequem. Umso stärker klammern wir uns an das Altbekannte, denn bisher hat es ja immer funktioniert. Doch was nützt uns das auf Dauer?

Traditionen haben keinen Bestand

Ebenso wenig wie die Welt um uns herum beständig ist, verhält es sich mit Traditionen. Es bedarf nur eines näheren Blicks. Denn das, was wir Tradition nennen, ist faktisch nicht “schon immer so” gewesen. Beispielsweise hat sich die bürgerliche, familiäre, traute Weihnachtsgemütlichkeit in der Wohnstube erst im 19. Jahrhundert etabliert. Vor Aufkommen des Christentums wurde Weihnachten gar nicht erst gefeiert, sondern andere Feste, etwa Wintersonnenwende. Juden, Muslime etc. feiern auch heute noch nicht das Weihnachtsfest – und sie leben!

Tomaten sind erst im 15. Jahrhundert aus Lateinamerika nach Europa gebracht worden und deshalb ebenso exotisch, wie es heute Drachenfrüchte für Europäer sind. Sie haben sich nach und nach etabliert.

Dass Walfang in einigen Kulturen als Tradition wahrgenommen wird, hängt eher damit zusammen, dass Walfleisch einst eine wichtige Ressource war, um zu überleben, und damit einhergehend das Technik und Wissen über Walfang von Generation an Generation übergeben wurden. Diese Zeiten sind meines Erachtens jedoch vorbei: Selbst wenn man Fleisch verzehren möchte, besteht keinerlei Notwendigkeit, auf bedrohte Arten zurückzugreifen. Gleichermaßen ist der Verzehr von Insekten in manchen Kulturkreisen so etabliert und kultiviert, wie in Westnationen der von Hühnern, Kühen und Schweinen. Und selbst die “gute Deutsche Küche” war im Laufe der Zeit stets Veränderungen unterlegen und hat sich aus verschiedenen Einflüssen zusammengesetzt.

Wir verbinden Tradition gern mit dem, womit wir aufgewachsen sind, denn unsere Erinnerung reicht eben nur so lang zurück. Aus diesem Grund betiteln wir bestimmte Brauchtümer als “schon immer so”, denn wir kennen es ja quasi nicht anders. Schon die heutige Generation an Schülern könnte Döner als traditionelles Gericht in Deutschland wahrnehmen. Wenn wir mit unseren Kindern keine religiösen Feste feiern, werden sie diese später auch nicht als traditionell empfinden. Wir steuern selbst, was wir tradieren und was nicht.

Werte sind einem Wandel unterlegen

Später den Beruf oder Betrieb der Eltern zu übernehmen schien lange Zeit Gang und Gebe zu sein. Mittlerweile ist das in den meisten Familien kein Thema mehr, auch wenn das Etikett “Familienbetrieb seit x Jahren” nach wie vor gern als trügerisches Qualitätsmerkmal verwendet wird. Dabei sagt es im Grunde nichts anderes aus, als dass ein Betrieb stets an die Nachkommen weitergereicht wurde und sich halten konnte. Die Gewinne eines Unternehmens geben aber keine Auskunft über Innovationskraft, Nachhaltigkeit oder die Qualität ihrer Produkte. Und dennoch messen wir der Aussage einen Wert bei.

Bei näherer Betrachtung sind auch Werte in unserer Gesellschaft nicht immer dieselben. Einst war es ein Wert, bis zur Ehe jungfräulich zu sein. (Traurigerweise ist das in manchen Gesellschaften auch heute noch so.) Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie Menschen einmal denken konnten, ein Mensch sei weniger wert, weil man unehelichen Sex hatte. Oder warum Geschlecht, Sexualität, Herkunft, Rasse, ethnischer Hintergrund, Religion/Glaube, wirtschaftliche Stellung oder politische Ansichten, gesellschaftliche Vorteile verschaffen sollten? Oder wieso es mir meine Vorfahren Rechte einbringen sollten, etwa Anspruch auf ein bestimmtes Stück Land?

Die leidige Wahrheit ist, dass es auch heute noch Menschen gibt, die an solchen veralteten Rollen und Sichtweisen festhalten. Nur bekommen wir die in unserer Blasenwelt so selten mit und sind dann ganz erstaunt, wenn Wahlergebnisse uns vor Augen führen, dass eben doch nicht alle Menschen mit uns auf einer Wellenlänge schwingen. Wie für Traditionen gilt auch für Werte, dass wir selbst entscheiden, was wir an unsere Folgegeneration weitergeben – indem wir sie leben.

Was dient der Welt am besten?

Wenn wir uns also das nächste Mal auf eine Diskussion einlassen, nach Argumenten oder Herangehensweisen suchen, oder uns gegen anstehende Veränderungen erwehren möchten, sollten wir den Satz “Das war schon immer so.” einfach mal runterschlucken, kurz innehalten und überlegen:

  1. Wie sieht die Sachlage (also die Fakten) aus?
  2. Wogegen kämpfe ich eigentlich an?
  3. Was ist das Schlimmste und das Beste, was in der Folge passieren könnte?
  4. Welche Lösung ist objektiv die beste?
  5. Warum setzen wir diese Lösung noch nicht um, wenn sie doch die objektiv beste ist?

Seien wir mal ehrlich: Wir halten viel zu oft an Alteingesessenem fest: Brauchtümer, Gewohnheiten, Meinungen, … – oft, weil es uns persönlich bequemer so ist. Das sollte aber nicht unser Maßstab sein, sondern wie wir die Welt, sei es in unsere persönliche Umfeld oder auf planetarem Ausmaß , zu einem besseren Ort machen können.

Was hältst du von Traditionen? Und wie vereinbarst du sie mit Innovation? Schreib es in die Kommentare!

Alles Liebe,
Philipp

4 Kommentare

Antworten

  1. Schöner Text und gut argumentiert!
    Traditionen sind bequem, ja, aber ich ich glaube sie erfüllen auch einen ganz anderen, wesentlichen Aspekt: Sicherheit
    Und das ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen. “An Weihnachten geh ich in die Kirche, danach gibts Gans. Wie immer.” oder “Ich nutze jedes Jahr das gleiche Hotel – das ist schließlich Tradition!” Das beruhigt doch ungemein nicht? Das kenn ich, da weiß ich was ich zu erwarten habe, das krieg ich und alles ist bestens…

    Das Leben ist ein ständiges Hin- und Her zwischen Bewahren und Verändern – die Frage ist also, wie man da die Balance hinkriegt? Blinden Fortschrittsglauben und Aktionismus kann ich nämlich genauso wenig unterschreiben.

    Also braucht man auf der einen Seite ein bisschen mehr Mut, Traditionen, die unpassend geworden sind zu lockern, zu hinterfragen, aufzubrechen und auf der anderen Seite…hmm…Entschleunigung und Objektivität, damit Innovationen nicht alle überfordern und zurücklassen.

    Wie kriegt man das gesellschaftlich hin?
    Angst nehmen, durch Gespräche, Empathie…wenn ich es kann
    Hinterfragen, hinterfragen, hinterfragen

    • Hey Cloudy,

      vielen Dank!

      Da hast du Recht, an den Aspekt der gefühlten Sicherheit habe ich in dem Zusammenhang gar nicht gedacht! Insofern ist wohl auch hier die Mitte zwischen den Extremen die Tugend.

      Um diese Balance gesellschaftlich hinzubekommen, finde ich Patenschaften recht sinnvoll. Das könnte so aussehen, dass die Innovatoren sich mit den Traditoren zusammensetzen und man sich ausstauscht. Auf diese Weise werden letztere fließend an Neuerungen herangeführt und man schließt niemanden aus, wenn man neue Prozesse, Gewohnheiten oder Produkte entwickelt. Beim Smartphone hat der Übergang beispielsweise generationenübergreifend recht gut funktioniert. Besonders hier in Israel sehe ich alle Altersgruppen die Geräte benutzen. Kann man das nicht auch bei anderen Dingen hinbekommen?

      Lieber Gruß,
      Philipp

      • Gute Idee! und bestimmt wird das so funktionieren. Das ist vor allem in Unternehmen wichtig, damit wertvolle Kenntnisse nicht verloren gehen. Aber auch so: Wie kann man gesellschaftlich nen Rahmen schaffen, damit sich jeder einbringen kann und niemand das Gefühl hat, abgehängt zu werden?
        Bei so Bürgerbeteilungsworkshops zur Quartiersentwicklung erfahr ich auch immer relativ spät, das wundert mich doch sehr.

        • Was sind denn Bürgerbeteiligungsworkshops? Lernt man da, wie man sich in die Entwicklung des eigenen Stadtviertels einbringen kann?

          Lokale Veranstaltungen und Gruppierungen sollte man jedenfalls frühzeitig analog und digital bekanntgeben und bewerben. Damit erhöht man zumindest die Chance, dass alle Generationen und Subgruppen davon erfahren. :)

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