Stillstand im Heiligen Land

Yom Kippur macht’s möglich! An diesem Tag pausiert Israel derart, dass ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllen konnte: Eine Radtour auf der Autobahn.

First things first. Was steckt eigentlich hinter diesem Feiertag? Warum liegt Israel noch stärker brach, als dies jeden Samstag ohnehin schon der Fall ist? Und weshalb feiern ihn auch Säkulare?

Der Tag der Versöhnung

Wie so viele Feiertage in Israel hat auch dieser einen religiösen Ursprung. Im Gegensatz zum Christentum glauben Juden nämlich nicht daran, dass Jesus Christus gestorben ist, um die Sünden der gesamten Menschheit zu vergeben zu bekommen. Einen Sündenbock gibt gab es aber dennoch. Genauer gesagt sogar zwei.

Zu Zeiten des Tempels (des zweiten, um genau zu sein) fand eine traditionelle Zeremonie statt, bei welcher die Hohenpriester in das Innere des Tempels durften, um stellvertretend für das israelische Volk um Vergebung zu bitten. An diesem Tag haben die Hohenpriester weder gegessen noch getrunken. Außerdem wurden zwei Ziegenböcke geopfert. Per Los wurde damals entschieden, welcher der beiden für die Reinigung im Jerusalemer Tempel geopfert und welcher auf dem Berg Azazel die Klippen hinunter geschubst wurde. Während das Blut des Ersteren auf die Bundeslade getröpfelt wurde (seltsame Art der Reinigung, wenn man so darüber nachdenkt…), wurden Letzterem alle Sünden aufgeladen, bevor er in sein Unglück gestürzt wurde.

Reichliche 2000 Jahre später (sprich: heute) gibt es den Jerusalemer Tempel nicht mehr, dafür aber Tierschutzorganisationen. Entsprechend haben sich die Traditionen ein wenig geändert.

Heutzutage ist deshalb jeder jüdische Gläubige selbst für seine eigene Versöhnung verantwortlich. Seit Rosh HaShana sind zehn Tage vergangen, an denen die Möglichkeit gegeben war, um Verzeihung zu bitten und nach jüdischem Glauben das Schicksal für das kommende Jahr zum Guten zu wenden. Entsprechend fasten an diesem Tag alle Juden für 25h. Das heißt im Detail ab Sonnenuntergang bis nach Sonnenuntergang des Folgetags:

  • keine Arbeit (wie an Shabbat)
  • kein Feuer entfachen (wie an Schabbat)
  • keine elektrischen Geräte ein- oder ausschalten (wie an Schabbat)
  • kein Essen
  • keine Getränke
  • kein Sex
  • keine Lederschuhe (die sollen das Leben wohl angenehmer machen)

Ein Land steht still

Stellt sich also die Frage, was man eigentlich tun kann? Fernsehen sehen und Radio hören jedenfalls schon mal nicht, denn alle Stationen stellen den Betrieb ein. Verreisen auch nicht, denn der öffentliche Nahverkehr verkehrt nicht, es starten keine Flugzeuge, es landen auch keine, die Grenzen sind geschlossen. Essen gehen kann man auch nicht, denn auch die Restaurants haben geschlossen, wenn man von den arabischen absieht.

Gläubige Juden entsagen an diesem Tag allem Physischen. Sie konzentrieren sich auf ihr Inneres und gewinnen daraus Freude und stärken ihre Verbindung zu Gott. Deshalb ist dies auch der wichtigste und heiligste Feiertag im Judentum und wird gar nicht mal so traurig aufgenommen, wie man denken mag.

1973 wurde dieser Stillstand von den ägyptischen und syrischen Streitkräften ausgenutzt, um einen Überraschungsangriff zu starten und so die von Israel besetzten Golanhöhen, sowie die Halbinsel Sinai zurückzuerobern – und das obwohl damals auch gerade der für Muslime heilige Fastenmonat Ramadan anstand. Der nach den Feiertagen benannten Yom-Kippur- beziehungsweise Ramadan-Krieg forderte auf beiden Seiten mehrere Tausend Opfer, weshalb Yom Kippur heute sogar von säkularen Israelis begangen wird.

Foto Aussicht von der Autobahn

Ein Traum wird wahr

Da ich bereits im Voraus mitbekam, dass es an Yom Kippur keinen Verkehr geben würde, hatte ich mich ausnahmsweise ein wenig auf diesen Feiertag gefreut. Ich liebe freie Straßen! Und nun durfte ich das Ganze noch einmal auf einem völlig anderen Level erleben: Der Autobahn.

Hast du dir schon einmal darüber Gedanken gemacht, wie viel Platz durch Autos auf Straßen eingenommen wird? In Städten stellt man das recht schnell fest, wenn man mal wieder nach einem Parkplatz sucht. Autobahnen hingegen zerschneiden ganze Landstriche, ohne das Fußgänger und Radfahrer Zugang zu ihnen haben.

Nun ist der Verkehr in Israel ein recht ungemütlicher. Es vergeht keine Minute in der mal nicht gehupt wird. Entgegen der deutschen Philosopie, nur in Notfällen zu hupen, damit die die Signalwirkung gewahrt bleibt, heißt es hierzulande: Lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig. Entsprechend hört man das grausame Tröten bereits, sobald die Ampel von Rot auf Gelb springt.

Obwohl es überall solche und solche Menschen gibt, erkenne ich eine gewisse Tendenz, dass der durchschnittliche Mitteleuropäer behutsamer fährt, als das im Nahen Osten der Fall ist. Das macht den Fahrradverkehr sogar im städtischen Gebiet manchmal etwas ungemütlich. Doch dann an Yom Kippur:

Kinder tollen auf der Straße. Niemand bemüht sich auch nur annähernd, auf dem Bürgersteig zu laufen. Inline Skater hier und dort. Und natürlich auch Fahrradfahrer.

Und dann verlasse ich die Stadt. Es ist sprichwörtlich ein einziges Auf und Ab, denn Jerusalem liegt in bergigem Gebiet. Die Aussichten, die ich sonst nur vom Bus aus sehe, laden tatsächlich zum Verweilen ein. Und ich frage mich, warum es hier eigentlich keinen Wanderweg in der Nähe gibt. Doch das Beste ist:

Dieser Raum! Ungestört kann ich meine Kreise ziehen und bergabwärts von einer der drei Spuren zur nächsten wechseln. Niemand hupt. Einzig und allein meinen Atem und das Vogelzwitschern höre ich. Und das auf einer Autobahn.

Ab und zu kommt dann doch mal ein Motorfahrzeug vorbei, ein Krankenwagen oder ein Einsatzfahrzeug der Polizei zum Beispiel. Doch das ist OK. Man kann sie schon hören, noch bevor man sie sieht.

Letztlich ist die gesamte Strecke von Jerusalem nach Tel Aviv zu viel für einen Nachmittag, weshalb ich nach 20km den Rückweg angetrete. Ich muss ich mich sogar etwas beeilen, denn mit Einsetzen der Dämmerung neigt sich Yom Kippur dem Ende und erste Privatfahrzeuge sind wieder unterwegs. Zwei Mal werde ich von der Polizei angehalten, mich doch etwas mehr zu beeilen. Doch dieser steile Anstieg vor den Toren Jerusalems! Warum ist der letzte Berg immer der schwierigste?

Foto Kinder auf der Autobahn

Ein paar Tipps und Tricks

Ich bin letztlich sicher und ohne Probleme nach Hause gekommen, sonst gäbe es diesen Beitrag nicht. Dennoch ein paar Hinweise, falls du auch mal eine Radtour auf einer Autobahn (vielleicht ja sogar in Israel?) machen möchtest:

  • Starte früh – dann knallt die Sonne noch nicht so und es ist weniger schweißtreibend (und dein Risiko eines Sonnenstichs oder -brands sinkt). Außerdem bleibt dann die Mittagszeit zum Erholen, bevor du den Rückweg antrittst (insofern du das tust).
  • Creme dich ein – und zwar mit Sonnencreme, denn auf der Autobahn gibt nur wenig bis gar keinen Schatten
  • Nimm genügend Wasser mit – Hydration ist wichtig! Mehr Bewegung und mehr Hitze bedeuten auch mehr Wasserbedarf!
  • Trag einen Helm – am besten auf dem Kopf. Ich bin selbst ein schlechtes Beispiel, aber wir haben nur diesen einen Kopf.
  • Nimm Licht mit – selbst wenn du planst, vor der Dämmerung zurück zu sein. Womöglich hälst du dich wo länger auf als geplant und findest dich plötzlich doch im Dunkeln wieder.

Das war mein Yom Kippur. Und trotz des anfänglichen Frustes aufgrund der ganzen Feiertage hier, habe ich die Stille des Tages so genossen. Wäre es da nicht eine Überlegung wert, einen autofreien Tag im Monat zu etablieren? Was meinst du?

Alles Liebe,

Philipp

3 Kommentare

Antworten

  1. Ich musste gerade an die autofreien Tage in München denken – und dass ich/wir es noch nie geschafft habe(n), die Straßen dann per Rad zu erkunden. Kein ganz passender Vergleich, aber ein Grund mehr, sich solche wunderbaren #MoreMoments endlich zu schaffen. Du hast das beneidenswerter Weise bereits getan!

    Herzlichst
    M21

    • Hallo,

      ich finde, bei einem Mal sollte es gar nicht bleiben – zwar nicht spezifisch auf eine Radtour auf der Autobahn bezogen, aber auf solche #MoreMoments, wie ihr sie nennt. :)

      Liebe Grüße,
      Philipp

      • Lieber Philipp,

        genau so :-D.

        Am Ende des Lebens bereut man nur dass, was man nicht gemacht hat. Und erinnert sich umgekehrt an die emotional intensiven Momente. Nicht an die neue Hose, an den Krempel x oder den Kram y, den man im klassischen Sinne konsumiert hat.

        Zumindest glaube ich ganz fest daran.

        Herzlichst
        M21

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