Letzte Woche erhielt ich meine Booster-Impfung gegen COVID-19. Nachdem ich die Praxis verlassen hatte, durfte ich am Nollendorfplatz sieben Minuten auf den Bus warten. Für gewöhnlich verbringe ich solche Wartezeiten damit, die Werbung in meiner Umgebung zu analysieren. Auch dieses Mal wurde ich nicht enttäuscht.
Dort, wo gewöhnlich bei Bushaltestellen beleuchtete Anzeigen durchgewechselt werden, befand sich ein Greiferspiel mit Stoffmöhren – eine gewiefte Werbeaktion einer Supermarktkette, wie sich schnell herausstellte. Das Spiel wurde auch rege genutzt: Als ich ankam, freute sich jemand wie ein kleines Kind über die gewonnene Stoffmöhre und begutachtete sie, bis der Bus kam.
Daneben stand ein junger Mann mit einem riesigen Plastiksack, vermutlich voll mit weiteren Stoffmöhren, um das Greiferspiel mit Nachschub auszustatten. Hilfsbereit erklärte er Interessierten, wie die Steuerung des Greifers funktionierte. Bei einer Frau wollte es einfach nicht gelingen. Ob sie es noch mal versuchen dürfte, fragte sie. Selbstverständlich, immerhin kostete es nichts, antwortete er.
An dieser Stelle regte sich direkt meine kritische innere Stimme: Es koste nichts?! Wohl kaum!
Tatsächlich nämlich, so dämmerte es mir, kostete dieses Spiel für weniger Langeweile an der Bushaltestelle das wertvollste Gut, über das wir verfügen: Unsere Zeit. Jetzt mag man freilich hinterfragen, ob es wirklich Zeit kostete, wo man doch ohnehin bereits an der Haltestelle wartete und nichts besseres zu tun habe. Außerdem schien die Kampagne ja erfolgreich gewesen zu sein, wenn sie mich doch sogar dazu bewegte, darüber zu schreiben. Doch deshalb verzichte ich bewusst auf Namen. Was mir mit diesem Beitrag am Herzen liegt, lässt sich abgesehen davon auch auf viele andere Bereiche übertragen.
Die Krux dabei: Bei der Zeit handelt es sich in vielerlei Hinsicht um ein Paradoxon. So wirkt die Zeit, die wir als Menschheit zur Verfügung haben schier endlos, denn mit jedem neu geborenen Menschen kommt mehr Lebenszeit hinzu. Doch die Zeit einer einzelnen Person bleibt begrenzt. Jede Sekunde die verstreicht, ganz gleich, wie wir sie verbringen, ist für uns als Individuum unwiederbringlich verflossen. Zum Glück wissen wir nicht, wie viel Zeit uns jeweils zur Verfügung steht. Andererseits: Gingen wir dann womöglich sorgsamer mit unserer Zeit um?
Denn ja, zunächst wirkt es nur wie ein paar Minuten, die man sich an der Bushaltestelle mit solch einem Spiel vertreibt (und ich mag Spiele wirklich gern!). Doch dann gewinnt man solch eine Plüschmöhre, für die man eigentlich gar keine Verwendung hat, stopft sich das zu Hause damit voll, obwohl man eigentlich gar keinen Platz dafür übrig hat, und benötigt schließlich auch noch Zeit, um das Ding wieder loszuwerden. Auch kleine Mengen an Minuten summieren sich. Somit zwängt sich die Frage, ob wir solche kurzen Zeiträume, die sich im Alltag immer wieder auftun, nicht lieber mit Dingen verbringen wollen, die uns wichtig sind, statt mit gemüsigen Kuscheltieren aus Synthetikfasern, doch förmlich auf! Spontan fallen mir ein:
- ein paar Seiten in einem Buch lesen
- Vokabeln lernen
- die Liebsten anrufen
- einem Podcast oder Musk lauschen
- oder einfach nur mal tief durchatmen
Letztlich habe ich meine sieben Minuten Wartezeit nicht auf einen Versuch am Greiferspiel verwendet, sondern lieber in Gedanken vor mich hin philosophiert. Wahrlich, Geschmäcker sind verschieden!
Gabi
20/12/2021 — 16:41
Mit solchen dusseligen Stoffmöhren werden dann die Kinderzimmer vollgerümpelt. Die armen Kids sitzen dann zwischen diesem Gerümpel und wissen weder mit sich, noch mit solchem Dinge-Unsinn was anzufangen. Woraufhin die Erwachsenen stöhnen, dass die Kinder doch soviel Zeugs haben, warum die nicht endlich mal damit spielen können und ob die Kids wohl Konzentrationsstörungen haben, einen Arzt oder Medikamente brauchen. – Horror!
Gleichzeitig fällt mir da der besondere Sinn von Minimalismus auf: Genau so ein Gerümpel und diesen Haben-Modus zu aus der Distanz heraus wahrzunehmen und zu durchschauen.
Philipp
21/12/2021 — 23:33
Hallo Gabi,
in Hinblick auf Geschenke finde ich es tatsächlich sehr faszinierend, dass man als Kind nicht langsamer an so etwas herangeführt wurde. Denn solch eine permanente Reizüberflutung kann ja auf Dauer wirklich nicht gut gehen und tun…
Lieber Gruß
Philipp
Gabi
22/12/2021 — 19:26
Die lieben Erwachsenen freuen sich halt immer so, wenn das Kind erstmal so strahlt – übersehen aber, dass diese Freude nicht lange anhält und irgendwann ins Gegenteil umschlägt.
Fröhliches Plätzchenfuttern!
Philipp
04/01/2022 — 05:41
Vielen Dank, Gabi! Ich futtere noch immer und hoffe, du konntest deine Feiertage auch genießen. :)
Lieber Gruß
Philipp
Thorsten
20/12/2021 — 17:11
OMG ein Zurümpelspiel als Zeitfresser. Wie im falschen Film. Nur schnell weg da ;)
Philipp
21/12/2021 — 23:34
Hallo Thorsten,
ja, das dachte ich mir auch. Doch das Zusehen war schon auch sehr faszinierend. :D
Lieber Gruß
Philipp
Aurelia
21/12/2021 — 21:51
Da bin ich ganz bei dir, ich hätte auch vor mich hin philosophiert
:-)
Schöne Wintersonnenwende wünsch ich dir!
Philipp
21/12/2021 — 23:34
Danke, die wünsche ich dir auch!