Die Notbremse ziehen

Standst du auch schon einmal vor einer Bremsvorrichtung, die dich explizit davor warnte, dass bei missbräuchlicher Nutzung hohe Strafen ausgesprochen würden? Gleichermaßen glaubtest du dich in einer Gefahrensituation, sahst Grund zum Handeln, doch diese kleine Weise Inschrift warf Zweifel auf: Sollst du wirklich alles ausbremsen?

Mittlerweile befand ich mich einige Male im Leben an einem Punkt, zu welchem ich mich gesundheitlich ohne Halt auf einen Abgrund zurasen sah. Eigentlich Anlass genug, denn wenn ich bereits selbst wahrgenommen hatte, dass Handlungsbedarf steht, warum sollte ich dann nicht unverzüglich die Notbremse anziehen anstatt meinem eigenen Elend entgegenzupreschen?

Wegen derselben Ausreden, die mich auch zuvor davon abhielten und schließlich dazu führten, sämtliche Warnhinweise auf der zurückliegenden Strecke zu ignorieren:

  • Ja, dauernd Überstunden tun nicht gut, aber manchmal seien sie eben nötig.
  • Ja, Geist und Körper benötigen auch Erholungsphasen, aber doch nicht gerade jetzt, wenn es so gut läuft!
  • Ja, junge Menschen stecken so etwas noch leichter weg als ältere, aber so alt bin ich ja noch gar nicht, oder?

Im Grunde hätte bereits die Tatsache, dass es nach meiner Kreativchallenge im Januar mit meinem Schaffen außerhalb der Lohnarbeit rapide gen Null ging, während ich mit Letzterer täglich weit mehr als ein Drittel des Tages verbrachte, Zeichen genug sein können. Doch offensichtlich brauchte ich es mal wieder auf die harte Tour und wartete bis zur Schockstarre, als ich realisierte, dass ich mit Hochgeschwindigkeit auf eine Klippe ohne Brücke zusteuere.

Nach Wochen der Mehrarbeit lag ich am ersten Urlaubstag komplett unbrauchbar brach. Am zweiten ziepte es kurz beim Essen im Magen. Am dritten war ich mir sicher, dass meine Gastritis zurück war. Zwecks Auslöser bedurfte es dieses Mal wenigstens keiner langen Suche, denn der liegt klar auf der Hand: Der vielzitierte Stress.

Das Wissen darum, dass wiederkehrende und länger anhaltende Gastritis auch Magenkrebs verursachen, beruhigt mich natürlich in keiner Weise. Trotzdem gönne ich mir zur selten wirkliche Ruhe – so ganz ohne Pläne, Vorhaben und Ziele, sondern einfach nur zum Genuss des Moments. Bei meinen Ambitionen lese ich oft genug nicht mal Bücher nur zum Vergnügen, sondern weil ich wachsen möchte. Deshalb habe ich in den vergangenen Jahren auch oft genug gleich noch einen messbaren Wert mit rangepackt, den es zu erreichen galt. Allem Minimalismus zum Trotz habe ich es wohl immer noch nicht geschafft, den Wert meiner Existenz von anderen Dingen, seien sie auch immateriell, zu entkoppeln.

Deshalb ziehe ich jetzt auch die Notbremse. Mir egal, ob dadurch andere Menschen ihre Ziele später als erwartet erreichen. Meine Gesundheit kann mir von denen niemand zurückgeben. Manchmal, so merke ich gerade, wachsen wir gar nicht, weil wir unsere Vorhaben schaffen, sondern weil wir scheitern und in der Folge dessen reifen. Wie so mancher Käse muss man für diese Reife eine Weile liegen bleiben. Das habe ich in den letzten Tagen und Wochen getan; einige weitere werden folgen. Während sich bei einigen reifenden Lebensmitteln der Geschmack deutlicher herausbildet, wurden mir einige Dinge in meinem Leben klarer. Welche, wird ein Thema für sich.

Bis dahin kann ich dir nur raten: Wenn du den Abgrund am Ende des Gleises siehst, kann es oft schon zu spät für eine Notbremse sein. Während meiner Wehrdienstzeit betätigte nämlich mal jemand ebendiese fahrlässig. Sie sprang jedoch bei Weitem nicht so ruckartig an, wie ich es von diversen Filmen erwartet hatte. Stattdessen verlor der Zug ganz gemächlich an Geschwindigkeit. Was lernen wir daraus? Auch wenn die eigene Notbremsung auf uns selbst abrupt wirken mag, werden davon nicht gleich alle anderen Menschen in gleichem Maße ausgebremst. Denn wir sitzen nun mal nicht alle im selben Zug, sondern eher in kleinen Kapseln auf der Autobahn. Am Ende fahren nur die auf, die uns ohnehin zu dicht auf die Pelle rücken.

Alles Liebe
Philipp

3 Kommentare

Antworten

  1. Hallo Philipp, genau genommen kannst du ja deinem Magen dankbar sein. Immerhin warnt er dich unmissverständlich, einen Gang langsamer zu machen. Ich stand schon öfter an dieser oder jener Belastungsgrenze. Man kommt nicht darum herum, u.a. die Ansprüche an sich selbst zu minimalisieren. Vielleicht eine Art Aktivitäts- und Kreativitätskonzentrat entwickeln: Was von meinen Ideen ist mir wirklich am wichtigsten und in welcher Menge? Eine Patentlösung dafür habe ich leider auch nicht, da auch äußere Rahmenv+bedingungen eine Rolle spielen. Ich bin gerade selbst ziemlich platt – Soziale Arbeit im begonnenen 6. Lebensjahrzehnt mit ein paar gesundheitlichen Einschränkungen und all das in Coronazeiten. Da minimalisiere ich all die privaten Optimierungsideen und schaue nur, woran ich Spaß habe.

    • Hallo Gabi,

      vielen Dank für deinen Rat, mit dem du den Nagel mal wieder auf den Kopf triffst. Die Entscheidung für eine einzige Sache fällt mir wahrlich nach wie vor nicht leicht.

      Da ich zwischen den Zeilen lese, dass du jüngst Geburtstag hattest: Noch alles Liebe nachträglich und allem voran Gesundheit und Zufriedenheit für das neue Jahrzehnt!

      Lieber Gruß
      Philipp

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