Fluchtversuche

Dies ist die Geschichte von und um Frau R.

Ich lernte Frau R. bei einem meiner Lebensmittelinkäufe in den hiesigen Supermarktketten kennen. Sie kassierte an Kasse 4. Zunächst einmal dachte ich mir nichts, obgleich mir ihre für Frauen in den Vierzigern atypische, schulmädchenhafte Erscheinung auffiel.

Als ich mich in die Schlange eingliederte, war sie nicht von den übrigen zu unterscheiden. Meine Aufmerksamkeit bekam sie erst, als ein Pärchen vor mir eine Diskussion anfing, ob sie nicht doch die Schlange wechseln sollten. “Sind doch die nächsten.”, meinte er. “Die Schlange nebenan wird trotzdem schneller sein.”, entgegnete sie.

Ich schaute mich um und warf einen genaueren Blick auf die anderen Wartenden. Direkt hinter dem Pärchen ein durchtrainierter, junger Mann, der auf seinem Handy hin- und her wischte. Hinter mir ein Herr, der kurzerhand den Bierkasten abgestellt hat, nachdem er ihm zu schwer geworden war. Erstaunlicherweise war die Schlange nach mir bereits beträchtlich gewachsen.

Gegen den Strom

Also sah ich mir das Geschehen an der Spitze der Schlange genauer an. Zunächst fiel mir die wesentlich geringere Biep-Frequenz vom Warenscanner auf. Während an den benachbarten Schlangen biep-biep-biep-biep-biep dominierte, gestaltete sich die auditive Landschaft an unserer Kasse eher so:

Biep.

“Die Windbeutel hatte ich letzte Woche auch. Richtig lecker. Innerhalb einer halben Stunde hatt’ ich die aufgenascht.”

Biep.

“Die Riffel-Chips werden total gern gekauft von ‘de Leut. Damit machen ‘se nichts verkehrt!”

Biep.

“O, die Pizza is’ ‘de beschte! Die hat so ‘nen knusprig dünnen Boden, des bekomm’ ich selber gar nich hin.”

Bevor der nächste Ton erklingen konnte, griff Frau R. unter ihre Kasse und zauberte eine 0,5l Flasche Wasser hervor, die sie in zwei Zügen leerte. Zwischen den beiden setze sie kurz ab und entschuldigte sich: “Entschuldign ‘se bitte, aber ich muss kurz ‘de Wasserreserven wieder auffülle’. Ich trockne hier total aus, wenn ich einen Kunden nach dem andern hab.”

“Schon OK.”, stammelte der Kunde. Das Pärchen führte immer noch seine Diskussion. “Siehst du?!”, fuhr sie ihn an und verdrehte dabei ihre Augen. “Na komm, jetzt muss er doch gleich nur noch bezahlen.”, versuchte er sie zu beruhigen. Der Durchtrainierte vertrieb sich immer noch die Zeit damit, an seinem Handy zwischen Apps hin- und her- zu wechseln, während alle anderen in der Schlange schnaubten und stöhnten.

Falsche Hoffnungen

Seltsamer Ausdruck, dachte ich mir… Die Zeit vertreiben. Wo soll sie denn hin? Schon komisch, dass wir uns stets beschweren, nicht genug Zeit zu haben, dann aber die Zeit, die wir haben, gar nicht wertschätzen. Furchtbare Wortschöpfungen haben wir in diesem Zusammenhang erschaffen. Die Zeit toschlagen. Als wäre sie ein lästiges Vieh, das wir uns vom Halse schaffen müssten.

Warum fällt es uns so schwer, die Gegenwart auszuhalten? Einfach mal im Hier und Jetzt zu sein, anstatt in Gedanken schon den übernächsten Schritt auszumalen. Und überhaupt: Wer verleitet uns eigentlich ständig dazu, mit dem Kopf für alle möglichen zukünftigen Szenarien gewappnet zu sein, wenn unser Körper eben doch an diesen einen, gerade stattfindenden Moment gebunden ist? Unser ganzes Leben scheint morgen stattzufinden, in irgendeiner eventuellen Utopie. Dabei könnten wir doch auch just in diesem Moment unsere Träume leben, statt unser Leben zu verträumen.

Mal eben das Handy gezückt, um die Langeweile der Gegenwart zu überbrücken, bis ein besserer Moment auftaucht – wie will ich den erkennen, wenn ich meine Umgebung gar nicht wahrnehme, weil meine Augen auf einen kleinen Bildschirm fokussiert sind?

Ein Stückchen Urlaub nach Monaten voll erschwerlicher Arbeit – wer weiß, ob ich dann überhaupt noch lebe, um den Urlaub genießen zu können? Kann ich mir den nicht schon jetzt erlauben?

Der Traum einer sicheren Rente mit Aussicht auf ein paar Jahre, in denen ich tun und lassen kann, was ich möchte, nachdem ich Jahrzehnte diszipliniert und straff für die Träume anderer geschuftet habe – warum so lang warten und nicht schon heute an der Umsetzung der eigenen Träume arbeiten? Wer weiß, ob mein Körper in 40 Jahren überhaupt noch dazu in der Lage sein wird?

Ewiges Leben und Paradies nach dem Tod, wenn wir uns in unserem Leben so beschränken,  wie es in Büchern geschrieben steht, weil es dort so geschrieben steht – wie toll kann das bitte sein, wenn dort nur Seelen leben, die meine Werte nicht teilen, und es kein Ende gibt? Was wenn ich trotzdem nicht reingelassen werde, obwohl ich mein Leben nicht so gelebt habe, wie ich gern gewollt hätte? Oder wie reagiere ich, wenn es doch nur dieses eine Leben und nichts nach dem Tod gibt?

Eine Frage des Umgangs

“Was bin ich froh, wenn das vorbei ist.”, höre ich so oft; sei es in den stressigen Phasen während der Schule, Uni, Arbeit, bei Krankheit oder Wartezeiten. Ich finde das ganz schön respektlos. Respektlos der eigenen Zeit gegenüber.

Ist es nicht pervers, dass wir uns wünschen, ein Teil unseres Lebens wäre schon jetzt vorbei? Lebensbejahend ist es jedenfalls nicht.

Deshalb bin ich dankbar für Frau R. und stelle mich seit jeher bewusst bei ihr an. Weil sie den Stress-Strom unterbricht und Paroli bietet. Diese Schnell-Schneller-Am-Schnellsten-Spielchen nicht mitspielt. Und mir immer wieder vor Augen führt, mich und meine kostbare Zeit nicht wichtiger zu nehmen, als sie sind.

Hast du auch eine Frau R. in deinem Leben?

Alles Liebe,
Philpp

 

2 Kommentare

Antworten

  1. Hallo Philipp!

    Über dieses Thema habe ich im Rahmen von meinem Achtsamkeitsprojekt länger nachgedacht. Im Grunde ist es mit dem “Zeit voran treiben” und sich “beeilen” ja doch so, dass wir – in letzter Konsequenz gedacht – schneller unserem Tod entgegen eilen statt unser Leben zu genießen. Macht nicht wirklich viel Sinn, oder?

    Schöne Geschichte und schöne Beobachtung!

    lg
    Maria

    • Hallo Maria,

      vielen Dank!

      Ja, das finde ich auch. Der Wunsch nach dem Vorbeirauschen der Zeit klingt wie Sehnsucht nach dem eigenen Tod. Vermutlich sind sich viele dessen nur nicht bewusst. Dabei würde es doch reichen, wieder zu lernen, auch zähe Momente mal auszuhalten.

      Lieber Gruß,
      Philipp

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