Auf dem Weg nach Hamburg, frage ich mich, wie das eigentlich passieren konnte: Da wohne ich schon mal in Berlin und bin dann ausgerechnet zum größten CSD Deutschlands gar nicht da. Wie bitte?!
Es zeugt schon etwas von Humor, dass ich tatsächlich früh morgens die Stadt verlasse und abends, wenn der ganze Trubel vorbei ist, zurückkehre. Menschenmassen sind ja ohnehin nicht meins und bei einer Million erwarteter Besucher.innen stellt sich tatsächlich die Frage, ob meine Abwesenheit so schwer ins Gewicht fällt.
Der CSD mag wirken wie eine spaßige Veranstaltung, eine riesige Party, bei der alle ausgelassen und ungehemmt feiern. Das ist er auch, aber nicht ausschließlich. Er ist auch politische Veranstaltung, bei der insbesondere zum heurigen 50-jährigen Jubiläum der Aufstände in New Yorks Christopher Street gedacht wird (daher übrigens die Bezeichnung Christopher Street Day oder kurz CSD). Außerdem wird sich Jahr für Jahr in vielen Großstädten weltweit für gleiche Rechte von Menschen abseits der Heteronorm ausgesprochen, denn das ist leider immer noch nicht der Fall. Natürlich möchte auch ich bei solchen Veranstaltungen Präsenz zu zeigen. Das hat heuer in Berlin leider nicht geklappt, denn auch ich bin nur ein Mensch und kann mich nicht zweiteilen.
Bevor ich nach Berlin zog, hatte ich Sorge, dass mir ebendieses Dilemma Schwierigkeiten im Alltag bescheren würde, immerhin gibt es in Berlin ein immenses Angebot an kulturellen und politischen Veranstaltungen, von denen Randgruppen in anderen Städten nur träumen können. Darüber hinaus bin ich vielinteressiert und unlängst dafür bekannt, stets mehr als möglich ist, von mir selbst abzuverlangen. Womöglich überschätze ich die Wichtigkeit meiner Anwesenheit bei dieser und jener Veranstaltung ja, womöglich sogar ganz gewaltig? Wie schon meine Mutti zu pflegen sagte: Ich muss nicht überall dabei sein – und kann es auch gar nicht.
Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten: Eben weil es jeden Tag dieses Überangebot gibt, kann man gar nichts so richtig verpassen. Selbst wenn ich eine Veranstaltung sausen lasse, kann ich mir sicher sein, dass in Kürze eine ähnliche stattfinden werden wird. So auch beim CSD: Freilich ist das 50-jährige Gedenktag zunächst etwas Besonders. Meine Erfahrung mit Jubiläen zeigt mir aber, dass es nächstes Jahr nicht weniger gut werden wird, insbesondere weil wir tendenziell zu hohe Erwartungen in runde Zahlen stecken. Außerdem habe ich ehrlicherweise bereits vor zwei Wochen einen richtig entspannten CSD in Leipzig genossen.
Die Sache ist die: Obwohl ich zwei Augen habe, reicht mein Fokus nur für eine Sache gleichzeitig. Freilich fände ich es grandios, ich könnte meine Aufmerksamkeit auf mehrere Prozesse gleichzeitig verteilen wie ein 8-Kern-Prozessor. Aber so eine Maschine bin ich nicht und wenn ich doch versuche, eine solche zu imitieren, zerbreche ich nur unnötig daran. Damit wäre niemandem geholfen. Also sorge ich mich lieber um mich selbst, um dann auch längerfristig positive Veränderungen bewirken zu können.
Respekt und Anerkennung fangen nämlich genauso an wie Fürsorge: Bei mir selbst.
Ganz viel Liebe
Philipp
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Tagebuch einer Großstadt.