Leben im Hotel

Aktuell pendle ich wöchentlich nach Lüneburg. Im Gegensatz zu letztem Jahr bin ich heuer in einem Hotel untergebracht. Eines Sonntags beim Betreten der Lobby ertappte ich mich dabei, wie ich intuitiv in meine Jackentasche griff, um meinen Haustürschlüssel herauszuholen. Spätestens da ahnte ich, dass ich das Hotel unbewusst nun wohl offiziell als “Zuhause” betrachte.

Anpassungsvermögen

Freilich war es nicht das einzige Anzeichen; auch in anderer Hinsicht hatte ich mich quasi häuslich eingerichtet:

  • Zwar sieht jedes Hotelzimmer identisch aus, aber unabhängig von der Raumnummer habe ich für all meine Dinge einen festen Platz im Raum.
  • Da die Luft im Raum so trocken war, dass ich mich morgens wie Spongebob nach einem Besuch bei Sandy ohne Goldfischglas fühlte, fande ich eine Methode, um den Raum auf eine für mich angenehme Luftfeuchtigkeit zu bringen. (Ein Hygienebeutel über dem Badentlüfter sowie ein an der Rezeption erhältlicher Wasserkocher machen es möglich.)
  • Beim Frühstücksbuffet pflege ich täglich dieselbe Kost und passiere meine Route entlang der verschieden Tresen mittlerweile routiniert wie im Schlaf. 
  • Im Laufe der Wochen begriff ich, dass Zimmer trotz gleicher Abmessungen eben doch nicht gleich Zimmer ist. Das Hotel verkauft Sparmaßnahmen so gern mit grünem Anstrich, dass nicht mehr funktionierende Kühlschränke auf den Zimmern weder ausgetauscht noch entsorgt werden. Mangels Klimaanlage hält man es in einem Zimmer auf der Westseite im Sommer nicht aus, weil es sich von Mittag bis Sonnenuntergang aufheizt wie ein Gewächshaus. Je weiter unten und je näher am Fahrstuhl sich das Zimmer befindet, desto mehr Umgebungsgeräuschen ist man im Zimmer ausgesetzt. Deshalb lasse ich mich nun nach Möglichkeit immer in dasselbe Zimmer einquartieren: Ostseite weit oben, damit mich morgens die Sonnenstrahlen wecken, ich aber abends bei angenehmen Temperaturen schlafen kann, mit funktionierendem Mini-Kühlschrank und nicht direkt am Fahrstuhl gelegen.
  • Die Rezeptionistin kennt mich natürlich schon beim Namen.

Fühle ich ich im Hotel so wohl wie zu Hause? Natürlich nicht. Aber im Grunde verbringe ich ohnehin kaum Zeit dort. Ungeachtet dessen, richte es mir dort eben möglichst angenehm ein.

Hotels als Modell

Wenn ich jedoch die Perspektive von mir als Individuum zu uns als Gesellschaft wechsle, sehe ich sogar einige Argumente dafür, das Hotels uns als Gesellschaft weiterhelfen könnten. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass Hotels selten dem Bedürfnis nach Individualismus vieler gerecht werden dürften. Doch auf gesellschaftlicher Ebene sehe ich immenses Potential zur Lösung von Wohnraumproblemen.

Hotels führen für oft dazu, dass im Vergleich zu Individualwohnungen viele Menschen auf wenig Fläche wohnen. Dennoch haben alle ihren persönlichen Rückzugsraum. Im Fall des Hotels, in dem ich untergebracht bin, bedeutet dies: Bett, Kleiderschrank, Bad, Schreibtisch mit Stuhl, Lesesessel und ein Balkon. (Und ein Fernseher, den ich bisher nicht benutzt habe.)

Für das leibliche Wohl ist über die Verpflegung des Hotels gesorgt. Das zeigt sich exemplarisch am Frühstücksbuffet, ließe sich aber auch auf andere Mahlzeiten übertragen – in meinem Fall trifft das sogar zu, weil ich (zweites) Frühstück sowie Mittagessen über die Kantine im Studio beziehe. Hier sehe ich zwei große Vorteile beim gemeinschaftlichen Essen über Buffets im Vergleich zu individueller Zubereitung:

  1. Es verbraucht weniger Ressourcen, wenn einmal eine große Menge Essen für alle, statt für jede Person einzeln zubereitet wird.
  2. Es bietet die Möglichkeit zu mehr Auswahl, als wenn alle nur für sich selbst Frühstück zubereiten.

Schließlich ist da noch der Zimmer-Service, dank dessen ich mir (zumindest im Hotel) Wäsche und “Hausputz” spare.

Natürlich ist ein Hotel ein wirtschaftlicher Betrieb und für einen Großteil der Bevölkerung wäre es nicht finanzierbar, anstelle einer regulären Wohnung in einem Hotel zu nächtigen. Dennoch möchte ich dieses Modell einmal als Chance betrachten.

Das Hotel-Prinzip

Wenn ich also die positiven Aspekte eines Hotellebens verallgemeinere, komme ich auf folgende Punkte, die das Hotel-Prinzip auszeichnen:

  1. Wenig Individualraum
  2. Austauschbarkeit von Individualraum über Standardisierung
  3. Viel Gemeinschaftsfläche
  4. Versorgung über Kantinen anstelle von individueller Essenzubereitung
  5. Bündelung von Arbeiten für die Gruppe

Ein Blick auf diese fünf Punkte offenbart, dass es längst Gesellschaftsformen gibt, die sich am Hotel-Prinzip versuchen.

Plattenbauten gehen im Grunde schon den ersten Schritt. Allerdings verwenden sie immer noch viel Platz auf Individualraum, der gar nicht so viel genutzt wird. Dafür werden oft Kellerräume zum Waschen und Trocken von Wäsche genutzt. In Wohngemeinschaften und studentischen Wohnheimen teilen sich mehrere Studierende zumeist Küche und Bad. In Armeen teilen sich Soldat*innen sogar die Schlafräume. In Wien habe ich schon Wohnprojekte kennengelernt, bei denen ein starker Fokus auf gemeinschaftliche Küchen und andere Gemeinschaftsräume für das gesamte mehrstöckige Gebäude gelegt wurde.

Im Grunde ließe sich dieses Konzept jedoch noch weiterdenken für sämtliche Alltagsgegenstände, die man letztlich doch nicht so häufig nutzt: Waschmaschinen, Trockner, Küchengeräte, Werkzeuge, Bücher, um nur ein paar wenige zu nennen.

Kibbuzim in ihrer ursprünglichen Form gingen sogar noch einen Schritt weiter: Jede Person hatte eine ihr zugewiesene Aufgabe für die Gemeinschaft. Generell lag der Fokus recht stark auf gemeinschaftlichen Aktivitäten und gemeinsam genutzten Ressourcen – womöglich sogar ein paar Schritte zu weit, denn mit “zu viel” Individualismus konnte man hier schnell anecken.

Experimente zulassen

Das liest sich wahrscheinlich alles kommunistischer, als es gemeint ist. Natürlich bin ich darüber im Klaren, dass meine Gedanken hier sehr in eine Utopie (oder für einige womöglich auch eine Dystopie?) münden. Das macht mir aber nichts aus.

Vielmehr möchte ich dazu einladen, sich einmal auf das Gedankenspiel einzulassen und sich selbst zu fragen: Wo brauche ich mehr oder weniger Individualismus? Wo brauche ich mehr oder weniger Gemeinschaft? Welche Potentiale stecken darin, wenn ich mehr auf gemeinschaftliche Infrastruktur zurückgreife, statt autark sein zu wollen?

Ungeachtet irgendwelcher politischer Ideologien und Agenden halte ich es für ratsam, Experimente zu wagen. Für mich habe ich schon häufiger erkannt, dass ich einen privaten Rückzugsraum brauche. Doch dafür brauche ich nicht viel Platz. Ein Hotelzimmer mit Bad wie oben beschrieben genügt mir, wenn ich auf bestimmte gemeinschaftliche Infrastruktur zurückgreifen kann.

Das wirft Fragen auf, allen voran: Macht das nicht einen Großteil meines Privatbesitzes überflüssig?

Selbstverständlich denke ich nicht so binär. Aber in diesem Gedankenexperiment sind Fragen und Antworten prinzipiell erstmal erlaubt.

Kannst du dir vorstellen, für den Rest deines Lebens nur noch in einem Hotelzimmer zu leben? Teile deine Meinung gern in den Kommentaren.

Alles Liebe
Philipp

1 Kommentar

Antworten

  1. “Macht das nicht einen Großteil meines Privatbesitzes überflüssig?”

    Ja und die meisten Menschen leben mehr in Erinnerungsstücken als mit Dingen, die sie regelmäßig verwenden. In den letzten Jahren habe ich viele Gebrauchsdinge verschenkt, die zu selten verwendet wurden und die ich mir ausleihen kann, falls ich sie brauche, zum Beispiel ein Laminiergerät, viele Keksdosen und eine Muffinbackform. Mir geht es super damit und bisher habe ich immer alles bekommen, was ich brauchte. Dafür klingeln die Nachbarn bei uns regelmäßig wegen bei denen fehlender Lebensmittelzutaten beim Kochen/Backen. Es gleicht sich alles aus.

    Gerne wäre ich schon bei Eintritt ins Berufsleben zu der Erkenntnis gekommen, weniger Geld für Dinge auszugeben.

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