Habt ihr den Sommer genossen? Gut, denn in wenigen Tagen ist es wieder soweit: Das Leben in Deutschland wird noch einmal heruntergefahren. Und es wird definitiv nicht das letzte Mal bleiben.
Als im März plötzlich sämtliches öffentliches Leben heruntergefahren wurde, war wenigstens Frühling. Kulturelles und soziales Leben gab es zwar nicht, aber draußen blühte die Natur auf und mit ganz wenigen Menschen draußen, war die Stadt sogar an ihren meistbefahrendsten Straßen erträglich.
Jetzt das genaue Gegenteil: Es ist Herbst, der Winter naht, die Tage sind bereits furchtbar kurz und werden noch kürzer. Auf dem Weg zur Arbeit sonnt man sich wenige Minuten im Tageslicht – auch bei Regen. Nach der Arbeit geht’s im Dunkeln nach Hause und direkt wieder rein. Das wird hart in den kommenden Monaten.
Ehrlicher Weise hatten wir noch keinen wirklichen Lockdown, auch nicht im Frühling. Seitdem sind sieben Monate vergangen und ich gewinne nicht den Eindruck, als hätten wir uns als Gesellschaft im erforderliche Maße darauf vorbereitet, weder psychisch noch organisatorisch. Vielleicht wollten wir einfach den Sommer genießen, nachdem uns bereits der Frühling und Fernreisen genommen wurden? Womöglich schienen die bevorstehenden Herausforderungen noch weit genug weg, um sie auch im Kopf komplett zu verdrängen. Und schließlich sei doch ohnehin alles so unvorhersehbar momentan, die Politik regle das schon und man könne ohnehin nur in den Tag hineinleben.
Doch dann wirkt die angebliche Einheit der regionalen Bestimmungen doch eher wie ein Schein. Viele Aufforderungen, doch kaum klare Regelungen oder Konsequenzen bei Missachtung, sogar Lücken, die fast bewusst gelassen wirken. Generell stellt sich die Frage, wo jetzt plötzlich die nötige personelle Verstärkung entnommen werden soll, um die Einhaltung von Maßnahmen zu gewährleisten, und was Institutionen und große Unternehmen eigentlich im letzten halben Jahr gemacht haben, um sich auf diesen Winter vorzubereiten. Es war doch klar, dass er kommt.
Als Einzelperson fühle ich mich dabei trotz ausführlicher Recherche nach Informationen so allein gelassen wie die Kulturlandschaft des Landes. Offensichtlich hat sich die Kinokette meines Vertrauens sehr gut vorbereitet: Kurz nach Bekanntgabe der Maßnahmen erschien eine entsprechende Stellungnahme auf der Website, die davon zeugt, dass je nach Lage verschiedene Fahrpläne bereitliegen. Auf der Website der Deutschen Bahn wird hingegen immer noch mit verlockenden Angeboten zum Reisen geworben. Geht’s noch?!
Schließlich sehe ich allem voran große Inkonsistenz in den Maßnahmen:
- Ich möchte meinen, unser Parlament hätte in den letzten Monaten sehr wohl nationale Gesetze auf den Weg bringen können, um Notfallpläne mit konkreten Maßnahmen in Ausnahmesituationen bei Seuchen einheitlich regeln zu können. Leider geschah das nicht.
- Warum greifen die Verordnungen nicht schon zum Wochenende statt danach? Jetzt lassen es wahrscheinlich viele noch mal so richtig krachen, was die Infektionszahlen weiter in die Höhe treibt.
- Warum werden religiöse Veranstaltungen gegenüber kulturellen bevorzugt behandelt? Beten und Bibel lesen kann man auch zu Hause. Was Versammlungen in Kirchen zu Seuchenzeiten für Opfer fordern, dürften wir eigentlich noch aus dem Mittelalter wissen.
Apropos Opfer: Gerade wird der “Lockdown light” als nötiges verkauft, um Weihnachten zu retten. Ich war ja stets der Meinung, es ginge um Menschenleben. So oder so erwarte ich nicht, dass vier Wochen genügen, um der Infektion Einhalt zu gebieten. Es klingt nur nach einem überschaubarerem Zeitraum und hält Menschen eher bei Stimmung, als bereits Maßnahmen über die nächsten Monate hinweg anzukündigen. Doch machen wir uns nichts vor: Würden wir heuer alle unsere Liebsten über die Feiertage besuchen, fliegen uns die Infektionszahlen wieder explosionsartig um die Ohren. Das ließe unsere jetzigen Bemühungen binnen weniger Tage verpuffen.
Auch wenn wir nur Menschen treffen, die wir sehr gut kennen, sind wir nicht vor einer Infektion gefeit. Es kann jeden treffen, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz. Sehr wahrscheinlich wird es auch jeden von uns früher oder später treffen, es bleibt eine Frage der Zeit. Insofern stellt es zur Verflachung der Kurve auch keine Option dar, statt einer Feierlichkeit mit 15 Menschen, all diese nacheinander, getrennt voneinander einzuladen. Letztlich trifft man dennoch 15 Menschen. Besser wäre, tatsächlich niemandem zu begegnen.
Es wird heuer keine normalen Feiertage geben. Dieser Winter wird heftig. Dennoch, oder gerade deshalb, benötigen wir ausgefeiltere, nachhaltige Mechanismen, die Alltag ermöglichen, ohne dass ganze Industrien um ihre Existenz bangen, uns allen die Decke auf den Kopf fällt oder wir in depressive Löcher fallen. Nur die Arbeitswelt am Leben zu erhalten, ergibt keinen Sinn, denn:
All work and no play makes Jack a dull boy
englische Redewendung
Mögliche Übersetzung: Ein Leben voll Arbeit doch ohne Freude lässt jeden Menschen verstumpfen
Unsere moralische Integrität gebietet uns, bereits mit Ankündigungen der Anordnung, ebendieser Folge zu leisten. Alles andere wäre ignorant, naiv und verantwortungslos. Dennoch gewährt uns diese Schonfrist, uns gebührend, aber mit der nötigen Vorsicht, auf die bevorstehenden Monate vorzubereiten.
Also tanke noch mal Tageslicht. Nutze die womöglich letzte Chance, im Lieblingscafé zu sitzen. Gehe noch mal ins Kino. Decke dich mit Büchern ein. Verabrede dich auf einen Spaziergang im Freien mit einem Herzensmenschen. Zelebriere das Privileg, diese Aktivitäten noch einmal wahrnehmen zu können.
Denn faktisch wissen wir nicht, wann es die nächste Möglichkeit dazu geben wird.