Leben in einer Millionenstadt – was für einige nach dem Paradies klingt, entpuppt sich für andere als Alptraum. Städte wie London, Paris oder eben auch Berlin zeigen, wie es geht. Was es bringt? Neben Vor- und Nachteilen vor allem eins: Mittelmäßigkeit.
Schon häufiger ist mir aufgefallen, dass mich Arbeitskolleg.innen selbst dann nicht sehen, wenn ich direkt an ihnen vorbeilaufe, sobald sie das Büro verlassen. Seltsam, könnte man meinen, wo wir doch zumindest 40 Stunden je Woche zusammen verbringen. Einfach gesagt sind sie mit ihren Gedanken bereits ganz woanders und veranschaulichen ganz wunderbar, wie anonym man in Berlin lebt.
Auch wenn man nur zehn Minuten von einander entfernt wohnt, ist es möglich, sich trotzdem wochenlang nicht über den Weg zu laufen. Niemand kümmert sich darum, wie du dich kleidest, worauf du stehst oder was du machst. Im Grunde sind ohnehin alle mächtig mit ihrem eigenen Leben beschäftigt.
Also genieße ich unter Millionen von Menschen Anonymität, denn einen Großteil der Bevölkerung kenne ich nicht und werde ich wahrscheinlich auch niemals kennenlernen. Entsprechend egal ist es mir, was sie von mir halten. Andererseits finde ich es schon schade, dass ich all die Vielfalt an verschiedenen Lebensentwürfen nie zu Gesicht bekommen werde, weil ich ja selbst komplett mit meinem eigenen Leben genug zu tun habe.
Acht Stunden Plus Arbeit, zu Hause warten das Herzblatt und meine Herzensprojekte. Da bleibt für anderes nicht so viel Zeit. Zufallskontakte und neue Freundschaften bleiben auf der Strecke. Dabei ging das zu Studienzeiten noch so leicht. Aber das ist ja auch schon ein Jahr her. Während ich zwischen meinen Polen rotiere, merke ich oft gar nicht, wie die Zeit auf dem Karussell Berlin verfliegt und ich in Wahrheit nicht wirklich von der Stelle komme.
Dass es mir damit nicht allein so geht, sieht man insbesondere in all den hippen Cafés, die im Grunde so aussehen, wie all die hippen Cafés in all den anderen Metropolen. Und auch die Menschen darin sehen irgendwie alle gleich aus. Dabei höre ich immer wieder, wie alle alles anders machen wollen. Doch scheinbar ist dieser zwanghafte Individualismus zum Scheitern verurteilt und unglaubwürdig, wenn die Millionen Einzeller in ihrer Summe doch nur zu einer homogenen Masse verschmelzen, anstatt sich füreinander zu öffnen.
Berlin ist freilich nicht die erste Millionenstadt, in der ich wohne. Auch in Frankfurt und München leben weit mehr als eine Million Menschen. Allerdings sind sie so klein, familiär und überschaubar, dass es oft gar nicht auffällt. Anders in Berlin: Die Stadtfläche böte im Grunde sogar noch Platz für mehr Leute. Aber würde ihr das überhaupt gut tun? Hier soll alles möglich sein. Aber steigern sich diese Chancen und die Lebensqualität tatsächlich mit steigender Bevölkerung? Oder wird alles nur noch uniformer?
Ich weiß es nicht. Aber nach einem Jahr mag ich aus meiner Zelle ausbrechen und mich auf die Suche nach dem Berlin begeben, von dem immer alle reden. Denn bisher fehlt mir davon jede Spur.
Alles Liebe
Philipp
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Tagebuch einer Großstadt.
Gabi
18/11/2019 — 12:02
Hallo Philipp, du hast ja genau genommen noch Glück, dass du in der Nähe deiner Arbeitsstelle wohnst. Üblicherweise muss man bei einer Vollzeitstelle beim Gesamtzeitbedarf ja nicht nur die üblichen 40 Std. rechnen, sondern auch in der Pause kann man nicht irgendwas unternehmen. Dann der Hin- und Rückweg. Ich war lange Jahre zwischen 12 bis 13 Stunden täglich unterwegs. Da reichte es nur noch für ein bisschen Erholung, Essen, Schlafen. Am Wochenende dann erstmal die Einkäufe, mal durch die Wohnung saugen, ausschlafen. Da hätte mir ein kleines Dorf auch nicht mehr viel genutzt.
Philipp
18/11/2019 — 19:35
Hallo Gabi,
damit schätze ich mich tatsächlich sehr glücklich. Andererseits sind Wege auch eine gute Zeit zum Verarbeiten und Lesen, was aber auch nur funktioniert, wenn man nicht selbst fährt. Und die durch die Nähe zur Arbeit bin ich gefühlt oft länger da, als ich wollte und sollte, eben weil der Heimweg zu kurz ist. Ein wenig Abstand zum Arbeitsplatz schadet also sicherlich nicht. Wenn ich auf Dauer täglich so lang unterwegs wäre, um zur Arbeit zu kommen, würde ich wahrscheinlich entweder meinen Arbeitsplatz oder Wohnort wechseln.
Und ja, die Pausenzeit fällt bei mir ebenso an. Allerdings darf ich die nicht zur Arbeitszeit rechnen, auch wenn sie faktisch “verloren” ist, wie du schon angemerkt hast. Meines Erachtens ist das nur ein weiteres Argument für sechs Stunden Arbeit am Tag, weil man im Vergleich zu acht Stunden gleich drei Stunden gut macht.
Dass sich ländliche Regionen und Großstädte in Hinblick auf Fahrtzeiten oft nicht unterscheiden, ist mir auch schon aufgefallen. Nach diversen Wohnsitzen in Klein- und Großstädten ist der zwischenmenschliche Austausch meines Erachtens in ersteren aber größer.
Lieber Gruß
Philipp
Nicole Beßling
18/11/2019 — 12:55
Hallo Philipp,
Gabi hat absolut Recht… ich selber arbeite 8 Std tgl außerhalb von Hannover,.dazu 1 std Mittagspause in einem Dorf, in dem Mittags nahezu alles geschlossen hat,.der Anfangsweg ist 30 min mit der S Bahn plus der Fußweg nach Hause bzw. Büro. So bin ich alles in allem von 7:30-19:00 außer Hause. Verspätungen noch nicht eingerechnet.
Und meine Nachbarn, die es den Klingelschildern nach gibt, sehe ich vll 1-2 mal im Jahr und weiß dann nicht mal, ob es wirklich Nachbarn sind oder Besuch….
Mich frustriert die heutige Zeit in vielen Dingen. Dieser Tage ganz besonders. Und dieses Thema der Anonymität steht dabei ganz weit oben….
Philipp
18/11/2019 — 19:42
Hey Nicole,
musst du denn eine Stunde Mittagspause machen? Wenn du etwas zum Mittag dabei hast, reichen womöglich ja auch 30 Minuten. Wir gestalten unsere Pausen recht eigenverantwortlich, was in Ausnahmefällen dazu führt, dass ich es ganz vergesse oder nicht dazu komme. Feste Pausenzeiten würden auch nicht wirklich funktionieren bei uns.
In puncto Anonymität gab es ja früher mal den Brauch, die Nachbarschaft kennenzulernen, indem man sich als Neue vorstellt. In früheren WGs, beispielsweise in Dresden, haben wir das in Rahmen von Feten gelöst, indem wir einfach das gesamte Haus mit eingeladen haben. Das fand ich sehr angenehm, weil man so wenigstens mal ins Gespräch kam und Menschen zuordnen konnte.
Lieber Gruß
Philipp