Das gute Leben ist näher, als wir denken

Wer hat nicht schon mal von Ausstieg, Downshifting und Entschleunigung geträumt? Gerade ist die Utopie zum Greifen nah. Allerdings gestaltet sie sich womöglich anders, als wir sie uns vorgestellt haben.

Als Angehöriger der Generation Y, bin ich wohl besonders anfällig für alle Utopien, die ein Leben mit mehr Sinn versprechen. Bedingungsloses Grundeinkommen, Bio-Produkte, Brötchen frisch vom traditionellen Handwerksbäcker um die Ecke – alles Vorstellungen, die mehr Lebensqualität für alle Beteiligten versprechen. Die Digitale-Nomaden-Szene ist hier keine Ausnahme und ein Meister darin, ein unkonventionelles Leben aufzuzeigen, von dem alle träumen: Selbstbestimmt und weniger arbeiten, dafür jeden Tag sein, wo wir wollen. Bislang bleibt es jedoch bei den meisten beim bloßen Traum.

Persönlich erkenne ich bei mir selbst auch einige diese Träume:

  • Das ortsunabhängige Leben hatte ich mir bereits erfüllt. Heute juckt es mir wieder mehr denn je unter den Nägeln.
  • Der Traum vom Leben auf dem eigenen Hof – die eigene Nahrung anbauen und am besten generell alles, was man benötigt, selbst herstellen. Schön wärs…
  • Regionales Handwerk statt Fließband: Das ergibt nicht überall Sinn, verspricht jedoch für die produzierenden Menschen mehr Sinnerfüllung und für die konsumierenden mehr Qualität, egal ob bei Geschirr, Kleidung oder eben der köstlichen, saftigen Semmel statt dem pappigen Fließbandbrötchen.
  • Ein Bedingungsloses Grundeinkommen für alle, soll für mehr soziale Gleichberechtigung und dafür sorgen, dass alle Menschen dem nachgehen, was sie am besten können und wollen, statt leidige Lohnarbeit nur zu erledigen, weil sie auf das Geld angewiesen sind.
  • Wenn schon nicht Bedingungsloses Grundeinkommen, dann doch wenigstens in Teilzeit bei vollem Gehaltsausgleich gehen. Zu viel arbeiten ist eh nicht gut und es gibt doch auch so genug anderes zu tun, oder?

Corona sei Dank, arbeitet gerade tatsächlich ein großer Teil der Bevölkerung weniger. Corona sei Dank, müssen wir gerade zwangsentschleunigen, denn allzuviel können wir in unserer Freizeit ja ohnehin nicht machen: Kinos, Klubs, Kraftsportverein – sämtliches Unterhaltungsprogramm ist geschlossen. Corona sei Dank, dürfen wir derzeit nicht das Land verlassen und ganz nebenbei hat die Lufthansa 95% ihrer Flüge eingestellt.

Von daher sind wir gezwungen, uns auf das zu konzentrieren, was wir derzeit mit dem bereits Vorhandenen zu Hause anstellen können. Spontane Flucht in fremde Kulturen über das Wochenende oder materiell-luxuriöse Konsumwelten im Einkaufszentrum funktioniert derzeit nicht. Prima fürs Klima. Für wirtschaftlichen Wachstum natürlich nicht, aber so oder so sind wir derzeit dazu angehalten, uns auf das Nötigste zu beschränken: Sei es beim Kontakt mit anderen Menschen oder bei unserem sonst so vergeuderischen Lebensstil.

So haben wir uns das mit der Entschleunigung wahrscheinlich alle nicht vorgestellt. Wenn wir Utopien denken, stellen wir sie uns nämlich meist mit all den Annehmlichkeiten vor, die wir bis dato auch genossen haben. Corona führt uns vor Augen, dass wir für das gute Leben eben auch etwas aufgeben werden. Weniger arbeiten führt in einem auf Zeit gegen Geld basierten Beschäftigungsverhältnis auch zu weniger Einkommen. Also kann man sich entsprechend weniger Materielles gönnen. Dafür bleibt mehr Freizeit. Und da in der Freizeit momentan ohnehin keine großen Gruppenaktivitäten unternommen werden können, gibt es auch keinen Grund zur FOMO. Stattdessen erhalten wir den nötigen Raum, uns einfach mal nur auf uns zu konzentrieren.

Den eigenen CO2-Abdruck zu verringern, ist nicht möglich, ohne etwas am eigenen Verhalten zu ändern – notfalls eben über die Corona-Bremse. Wer sie als “Spaßbremse” bezeichnen möchte, hat wahrscheinlich noch nicht verstanden, dass man auch ohne Alkohol / Fernreisen mit Flugzeug / … [Zutreffendes einsetzen] Spaß haben kann. Nun gilt es, kreativ zu werden, neue Wege zu finden, wie wir die neu gewonnene Freiheit nutzen können, und, wo wir schon dabei sind, ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu entwickeln, dass besser funktioniert als das bisherige. So läuft das: Manchmal braucht es eben Schicksalsschläge, damit wir den nächsten großen Schritt wagen.

Als dann, ab ans Reißbrett! Das gute Leben ist schon da. Wir brauchen es nur anzunehmen und unseren Ideen nach zu gestalten.

Alles Liebe
Philipp

2 Kommentare

Antworten

  1. ein toller Artikel, lieber Philipp!!!
    Ich nutze die “Freizeit” gerade dafür, MOOCs zu machen und mich weiterzubilden. Und da ich an Pfingsten vermutlich eh nich verreisen kann, kann ich noch mehr lernen :D

    Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass eine Familie ein “Vorfreudeglas” hat. Wo sie Sachen auf kleine Zettel schreiben und reintun mit etwas, worauf sie sich freuen, wenn alles wieder “normal” ist. Das ist eine schöne Idee, denn Vorfreude macht auch glücklich und lotet zugleich aus, was man kulturell/ideell/physisch braucht. Ich freue mich sehr auf Schwimmbäder und Kunstmuseen oder auch mal wieder einen Kinobesuch.
    Ein Bummel durch ein Warenhaus oder durch ein Einkaufszentrum kann dagegen ruhig ausfallen :D
    Ich geh jetzt mal zurück ans Reißbrett und denk mir aus, was ich für ein gutes Leben brauche :)

    • Hallo Cloudy,

      vielen Dank für das Lob! Es freut mich, dass er dir gefällt.

      Weiterbildungen sind auch eine hervorragende Idee, um sich den Ausnahmezustand aufzuwerten. Vor allem hat man auch langfristig was davon. ;) Ich hoffe auch, etwas in Hebräisch aufholen zu können und gerade der Input von Museen und Kinos fehlt mir derzeit. Die Idee mit dem Vorfreudenglas finde ich auch klasse! Wir sagen zwar immer, man solle nicht warten mit den Träumen, aber zur Zeit bleibt uns ja quasi nichts anderes übrig. Oder wir finden eben andere Wege, uns die Bedürfnisse dahinter zu erfüllen.

      Lieber Gruß vom Reißbrett
      Philipp

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert