Lang hatte ich gehofft, dass mir dieser Beitrag erspart bleibt. Doch anlässlich des traurigen zweiten Jahrestages des Überfalls der Hamas auf Israel sowie des daraus resultierenden Gaza-Krieges scheinen die Fronten verhärteter denn je – auch wenn gerade ein Hoffnungsschimmer möglich scheint.
Zur Erinnerung: Krieg verursacht in erster Instanz viel Leid und Verluste – auf allen Beteiligten Seiten. Obwohl uns das Nachrichten täglich vor Augen halten, gewinne ich den Eindruck, dass wir als Gesellschaft zunehmend verrohen und emotional abstumpfen. Während ich täglich viel Mitgefühl für ferne Schicksale vermisse (und “fern” beginnt manchmal schon abseits des eigenen Körpers), beobachte ich gleichzeitig, wie ungeheure Mengen an Energie in Lagerbildung und Aufrechterhaltung gesteckt wird. Das finde ich schade und verheerend zugleich.
Genau diese Lagerbildung ist es, die sowohl die rationale als auch die emotionale Intelligenz vieler Menschen in Luft auflöst. Anders kann ich nicht erklären, wieso die Annahme, die Welt ließe sich nur in Gut und Böse unterteilen, derart unkritisch akzeptiert wird. Sehr wohl verstehe ich das Bedürfnis nach einfachen Lösungen in einer zunehmend komplexeren Welt. Die haben für einfache Sachverhalte und Probleme durchaus ihre Berechtigung. Bei komplexen Konflikten wie dem Nahostkonflikt taugen sich jedoch leider nichts, wie man anhand der Reaktionen verschiedener Lager auf voreilig herausposaunte Vorschläge sehen kann.
Doch keine Sorge! Auch ich werde den Nahostkonflikt in diesem Beitrag nicht lösen. Nicht einmal versuchen werde ich es. Vielmehr möchte ich folgende Grundannahme in Frage stellen:
“Die einen sind gut. Also sind die anderen böse.”
Die Realität ist weitaus komplexer als die Geschichten in Zeichentrickserien für Kinder. Denn unsere Welt ist nicht schwarz-weiß. Dazwischen gibt es neben unzähligen Grautönen noch viel mehr Farben. Warum sollten wir die komplett ignorieren?
Ein erster Schritt in Richtung Friedensprozess wäre, anzuerkennen, dass es nicht nur die einen und die anderen gibt. Dualismus verkauft sich gut, weil er einfach verständlich ist. Wer näher hinsieht, wird jedoch feststellen, dass er die Komplexität unserer pluralistischen Welt überhaupt nicht abbilden kann.
Schauen wir uns das im Rahmen des Gaza-Krieges einmal näher an. Zu Erklärungszwecken werden gern Parteien gegenüber gestellt. Einige dieser dualistischen Abbildungen sind unter anderem:
- Israelis vs. Palästinenser*innen
- Juden vs. Araber
- Westen vs. Osten
Bei genauerer Betrachtung fällt schnell auf, dass all diese Kategorien von Menschen erdachte Abgrenzungen sind und nur bedingt Sinn ergeben. Natürlich kann ich Israelis und Palästinenser*innen aufgrund von territorialen Grenzen von einander abgrenzen. Doch genau diese Grenzen wurden von Menschen gezogen, die allesamt zufällig irgendwo auf der Welt geboren werden. Wenig überraschend gibt es auch Menschen, die sich als palästinensisch identifizieren und einen israelischen Pass besitzen.
Jüdische Menschen sind keine homogene Gruppe. Es gibt unter anderem säkulare, religiöse und orthodoxe, die unterschiedlicher nicht leben könnten. Es gibt auch jüdische Menschen mit arabischen Wurzeln. Die arabische Bevölkerung Israels ist genauso wenig eine homogene Gruppe. Sie gehören, wie wir Menschen in Europa, nicht alle einer Religion an, denn neben dem Islam mit seinen verschiedenen Konfessionen gibt es auch christliche und drusische Menschen arabischer Abstammung.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich niemandem die eigene Identität absprechen möchte. In welcher Umgebung, sowohl landschaftlich und klimatisch als auch gesellschaftlich und politisch, man aufwächst, hat einen erheblichen Einfluss auf die persönliche Entwicklung. Umso verblüffender ist es, dass so viele identitätsstiftende Merkmale rational betrachtet konstruiert sind und auch entsprechend leicht dekonstruiert werden können.
Ein hervorragendes Beispiel ist die Unterteilung in Westen und Osten. Ein Blick auf die Karte offenbart, dass diese Sichtweise sehr eurozentrisch ist und einer Zeit entstammt, als die amerikanischen Kontinente unseren europäischen Artgenossen bis vor einigen hundert Jahren noch nicht bekannt waren. Heute wissen wir, dass die Erde keine flache Scheibe, sondern rund ist. Je nach Blickrichtung befindet sich Europa entsprechend nicht immer im Westen, sondern auch im Osten – und das beides gleichzeitig.
Diese Gleichzeitigkeit gilt vielerlei Hinsicht. So gibt es in Israel sowohl progressive als auch konservative Menschen, ebenso wie das für die palästinensische Bevölkerung gilt. Es gibt zahlreiche Menschen, die den Gaza-Krieg verurteilen (und nach wie vor jede Woche auf die Straße gehen), aber eben auch welche, die ihn unterstützen, genauso wie es in Gaza unterschiedliche Haltungen zur Terrororganisation Hamas gibt.
In Israel regiert mit Benjamin Netanyahu ein demokratisch gewählter Mann. Gleichzeitig geht der für sein politisches Überleben und, um sich laufenden Gerichtsverfahren zu entziehen, über Leichen. Die palästinensische Bevölkerung wird seit Jahrzehnten von Terrororganisationen regiert. Gleichzeitig sind bei weitem nicht alle Palästinenser*innen Terroristen.
Während Betroffene auf allen beteiligten Seiten leiden, findet weiterhin dualistische Lagerbildung statt, weil Regierungen sich gegenseitig bezichtigen, die Bösen zu sein, und sich selbst als Heilige krönen. Da kann einem schon mal jegliche Empathie für die Opfer auf einer der anderen Seiten fehlen – denn in der schwarz-weißen dualistischen Welt sind wir die Guten und die anderen die Bösen, oder?
Es ist eine persönliche Entscheidung, einem dieser Narrative zu folgen. Alternativ darf man auch schlichtweg alle dekonstruieren und kritisch hinterfragen, wem sie tatsächlich nützen. – Kleine Warnung am Rande – Das erfordert mitunter äußerste Anstrenungen. – Und wenn sich dann am Ende herausstellt, dass kein Narrativ alle Fakten abbildet, stellt sich schon die nächste Frage:
Hältst du diese Gleichzeitigkeit aus?