Neulich hielt ich einen Vortrag zum Thema Vom Vagabundieren und Verweilen. Während der anschließenden Diskussion merkte einer der Anwesenden an, dass ich mittlerweile sesshaft geworden sei, es nur selbst noch nicht wisse. Also habe ich mich darüber sinniert, wie nah am sesshaften Leben ich tatsächlich bin.
Ursprünglich hatte ich diesen Blog gegründet, um darüber zu berichten, wo ich mich gerade in der Welt aufhalte. Sechs Jahre und 20 Umzüge später, hat sich mein Fokus nicht nur im Hinblick auf den Blog ganz organisch gewandelt: Es geht mittlerweile nicht mehr nur darum, wo ich gerade in der Welt bin, sondern auch, wo ich mich geistig aufhalte. Natürlicher Weise haben sich dabei über die Jahre hinweg sowohl meine thematischen Schwerpunkte als auch meine Prioritäten im Leben gewandelt.
Lernkurven flachen ab
Als ich zu Beginn meiner Studienzeit plante, womöglich für immer in Dresden zu bleiben und dann nach nur zwei Jahren bereits der nächste Umzug bevorstand, war alles noch recht schwerfällig. Doch mit jedem Umzug reduzierte ich meinen Besitz weiter und auch in Hinblick auf das organisatorische Drumherum wurde vieles leichter; die Lernkurve war am Anfang natürlich extrem steil. Im Laufe der Umzüge entwickelte sich das damit verbundene Prozedere zu meinem Modus Operandi. Entsprechend war ich es rasch gewohnt, meine sieben Sachen zu packen, die Zelte abzubauen und mich neu in eine Region einzugewöhnen. Natürlich lernte ich mit jedem neuen Umzug immer noch Tricks und Kniffe, allerdings wurden sie zunehmend weniger: Die Lernkurve flachte ab.
Da ich gern mein Leben lang lernen möchte, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mir mich regelmäßig Neuem zuzuwenden und mich immer wieder aus meiner Komfortzone herauszubequemen. Für einen nomadisch veranlagten Menschen wie mich bedeutet das: Einfach mal bleiben. Tatsächlich fällt mir das gar nicht so leicht. Ich führe über ziemlich viele Dinge Statistik, unter anderem auch darüber, wie viel Zeit ich zu Hause verbringe. Nach vier Monaten in Berlin erschrak ich etwas bei der Feststellung, dass ich trotz “geregelter Vollzeitarbeit” einen ganzen Monat gar nicht zu Hause war.
Als Fan von Quoten, um meine Ziele zu erreichen, erlegte ich mir lang Vorgaben auf, wie viel ich im Jahr verreisen möchte. Das brauche ich mittlerweile nicht mehr, denn ich bin auch so bereits recht viel unterwegs. Stattdessen wäre eine Quote für das Verweilen viel angebrachter, um Berlin als Stadt kennenzulernen. Deshalb ist mein Ziel, zumindest ein Wochenende je Monat hier zu verbringen. Vielleicht schaffe ich ja langfristig sogar zwei?
Der Reiz des Besonderen ist begrenzt
Mittlerweile habe ich mich neben langen Aufenthalten auch an lange Reisen gewohnt. Kurze, oberflächliche Reisen sind zwar nie völlig zufriedenstellend, stellen aber eine willkommene Abwechslung dar. Doch sind sie das überhaupt, eine Abwechslung? Gefühlt lebt unsere Gattung mobiler denn je. Ob man sich selbst als Nomade betrachtet oder nicht: Wir sind alle ganz schön viel unterwegs – im Großen wie im Kleinen, sei es Auswandern, die ausgedehnte Reise oder der tägliche Weg zur Arbeit.
Zu behaupten, ich würde das Gefühl des Unterwegsseins mögen, wäre untertrieben. Oft habe ich das Gefühl, ich kann gar nicht mehr ohne. Gleichzeitig gewinne ich nicht den Eindruck, als wäre das noch so außergewöhnlich, aber womöglich liegt das auch nur an meiner Blase. Und apropos außergewöhnlich: Die Chance, etwas einzigartig zu machen, haben wir für alles genau ein Mal. Natürlich kann ich wieder und wieder in neue Länder ziehen, aber nur beim ersten Mal erlebe ich es, ohne die Erfahrung mit ähnlichen zu vergleichen.
Davon, für immer an einen Ort, sei es ein fremdes Land oder nicht, zu ziehen, habe ich mich ohnehin unlängst verabschiedet. Alles ist zeitweise. Allerdings lässt jedes weitere Mal mehr Vergleiche zu und macht das ursprünglich Einzigartige weniger besonders. Deshalb genügt es mir nicht mehr, einfach nur in ein neues Land ziehen. Der Reiz des Besonderen ist allem voran durch neue Erfahrungen bestimmt, was nicht notwendigerweise durch einen neuen Ort geschehen muss.
Tiefes Reisen braucht Zeit
Was Reisen anbelangt gibt es zwei Hauptströmungen, beide stellen Extreme am jeweiligen Ende des Spektrums dar: Manche Menschen wollen in vorgegebener Zeit möglichst viele Reiseziele packen, bewerten ihre Reise also quantitativ. “Wenn ich schon mal da bin, möchte ich möglichst viel sehen!”, lautet hier das Motto. Auch ich habe mal so getickt: Angesteckt vom Reisefieber während meiner ersten selbstständigen Reisen, fühlte ich mich direkt beflügelt die ganze Welt erkunden zu wollen. Aber was heißt das schon? Jeden Quadratzentimeter werde ich wohl kaum schaffen. Alle Länder dieser Welt schon eher, aber wie tief reise ich dann noch? Alle Hauptstädte wären schon drin, aber was weiß ich dann wirklich über ein Land?
Mittlerweile hat sich mein Fokus verschoben, denn auch auf Reisen ist weniger mehr. Sprich: Lieber reise ich langsamer und dringe tiefer in Orte ein, als dass ich überall nur an der Oberfläche kratze. Ich genieße immenses Glück, in meinem Leben die Chance ergriffen zu haben, ein Land außerhalb der mir vertrauten Kultur so intensiv kennenzulernen, die Landessprache aufzunehmen, in die Kultur einzutauchen und nachhaltige Beziehungen mit den Menschen dieses Landes aufzubauen. Einer der Gründe, weshalb ich so stark persönlich mit Israel verwoben bin, liegt darin, dass ich in einer Partnerschaft mit einem Israeli lebe. Entsprechend bin ich auch stärker in israelische Brauchtümer und Traditionen eingebunden. Auch während der Zeit, die ich nicht in Israel bin, habe ich noch einen Bezug zum Land. Diese Tiefe lässt sich nicht eben noch mal für ein anderes Land herstellen.
Ohnehin habe ich mit Israel noch längst nicht abgeschlossen. Außerdem gibt es Abschnitte im Leben, die in jeder Kultur prägend und meist einmalig sind. Dazu gehören neben der Schul- und Wehrdienstzeit auch das Studium. Auch wenn man niemals “nie” sagen soll, sind alle drei in meinem Leben zunächst vorüber. Auch in anderen Ländern werde ich sie höchstwahrscheinlich nicht noch einmal durchlaufen.
Wo ist mein Lebensmittelpunkt?
Diese Frage scheint zunächst simpel, gestaltet sich bei mir aber gar nicht so leicht. Nun könnte man annehmen, der Lebensmittelpunkt sei dort, wo man lebt. Doch ab wann hört man auf, Tourist zu sein und wohnt tatsächlich an einem Ort? Wenn man wo arbeitet? Wenn man wo gemeldet ist? Wenn man mehr als sechs Monate in einer Wohnung übernachtet hat?
Meines Erachtens reicht keines dieser Kriterien allein aus. Während der letzten Jahre bin ich im Schnitt alle 3,6 Monate umgezogen. Habe ich dann überhaupt an irgendeinem der Orte wirklich gewohnt? Als freiberuflicher Filmemacher konnte ich neben dem Studium ortsunabhängig arbeiten, habe Jobs also entweder mitgenommen oder als Anlass gesehen, vorübergehend umzuziehen. Dass der bloße gemeldete Wohnort nicht als Bestimmung des Lebensmittelpunkts geeignet ist, brauche ich wohl kaum erwähnen.
All die Menschen, die ich über die Jahre in diversen Städten kennen und lieben gelernt habe, leben ihren Alltag auch ohne mich und sind teilweise ebenfalls umgezogen. Entsprechend großflächig verteilt sind meine Herzensmenschen. Ich arbeite in Berlin. Mein Familie lebt größtenteils im Vogtland, mein Partner in Israel und mein Freundeskreis recht großflächig verteilt, auch wenn sich mittlerweile ein solider Kern in Leipzig konzentriert. Das spiegelt sich freilich auch in meinem Lebensmittelpunkt wider, denn ich habe nicht nur einen und verwende mittlerweile einen großen Teil meiner Freizeit darauf, Beziehungen mit den mir am wichtigsten Menschen nicht nur am Telefon, sondern auch vis-a-vis zu pflegen.
Alles in allem trägt das nicht nur dazu bei, dass ich mir oft vor Augen führe, welche Beziehungen langfristig sind und welche kurze Berührungspunkte in den Zeitstrahlen unserer Leben. Jeder neuer Wohnort birgt wieder neue Berührungspunkte. Gleichzeitig bedeutet jeder Umzug auch, dass manche Beziehungen sich auflösen. Dass alles nur von begrenzter Zeit ist, habe ich ohnehin längst akzeptiert. Bei den mir am wichtigsten Personen habe ich aber ein andauerndes Interesse daran, gemeinsame Zeit zu teilen: Lokal vor Ort. Ich möchte an ihren Leben teilhaben, auch wenn sich unsere Lebensentwürfe auseinanderentwickeln. Wenn sie Kinder haben, möchte ich diese mit aufwachsen sehen und nicht bei jedem Besuch alle paar Jahre erschrocken feststellen, wie groß sie geworden sind.
Während ich also nach wie vor nicht weiß, ob und wo ich mich eines Tages einmal dauerhaft niederlassen werde, (woran ich ohnehin nicht glaube,) lebe ich weiter im Limbo und pendle zwischen meinen Lebensmittelpunkten.
Wir bestimmen uns selbst
Das ist meine Einschätzung der Situation – meiner Lebenssituation. Doch auch dieses Beispiel zeigt, dass jede Person sie individuell definiert, der Blick von außen manchmal ganz anders aussieht und wir uns viel zu oft Definitionen von außen aufstülpen lassen. Dabei kommt es letztlich auf die innere Einstellung an: Wir sind die einzigen, die unser Leben definieren sollten.
Ebenso wenig, wie es eine allgemein gültige Definition für wohnen und leben gibt, lässt sich eindeutig bestimmen, ab wann man nomadisch lebt oder eben nur gelegentlich umzieht. Für mich ist es total irrelevant, ob ich tatsächlich alle paar Monate meinen Wohnort wechsle. Viel wichtiger ist, mir die Möglichkeit offen zu halten, ihn frei bestimmen zu können. Gerade genieße ich Berlin. Aber wenn ich keine Lust mehr auf die Stadt habe, möchte ich diesen Umstand unbeschwert ändern können. In der Praxis heißt das:
- Offen bleiben für Veränderung.
- Jederzeit eine Exit-Strategie parat zu haben, falls mir meine aktuelle Lebenssituation nicht mehr zusagt und ich Veränderung möchte.
- Sich von äußeren Zwängen freizumachen.
Deshalb begreife ich mich immer noch als Nomade, denn viel mehr als ein äußerer Umstand, ist das Mindset entscheidend. Die Liste der Orte, die ich gern mal bewohnen würde, besteht weiterhin. Allerdings hat sich ein Aspekt wesentlich geändert: Es ist für mich keine Liste zum Abhaken, sondern voller Optionen, aus denen ich wähle, wenn mir danach ist. Denn letztlich ist das nomadische Leben vor allem eins: Eine Entsagung von Zwängen. Deshalb ist das Letzte, was ich tun möchte, mir selbst welche aufzuerlegen, nachdem ich gelernt habe, den äußeren so gut zu entkommen.
Wo ist die Grenze zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit für dich? Bei drei Monaten an einem Ort? Einem halben oder ganzen Jahr? Oder dürfen es doch mehrere Jahre sein? Letztlich entscheiden wir das alle für selbst, genauso wie den Radius in dem wir uns bewegen wollen.
Alles Liebe
Philipp
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Tagebuch einer Großstadt.