Im Juni war ich spontan im Schwarzwald. Von Berlin aus sage und schreibe sieben Stunden Fahrtweg – eine Richtung. Bei vier Übernachtungen kommt da rasch eine Frage auf: Stehen Fahrtweg und Aufenthalt überhaupt im Verhältnis?
Wir leben in einer Zeit, die so stark von alltäglicher Mobilität geprägt ist, wie wohl keine andere zuvor. Als nomadisch veranlagter Mensch ist man wohl ohnehin häufiger unterwegs, als der Schnitt, sollte man meinen. Doch ist dem wirklich so? Tagein, tagaus legt ein Großteil der Bevölkerung täglich größere Strecken zurück, als vor der Industrialisierung in einem Menschenleben zurückgelegt worden waren.
Wo die Grenzen dessen liegen, was sich lohnt, lässt sich freilich pauschal nicht beurteilen. Aber ein paar Anhaltspunkte gibt es wohl:
- Wie lang bin ich unterwegs, bevor ich am Ziel ankomme?
- Lege ich im Anschluss dieselbe Strecke wieder zurück oder reise ich zu einem anderen Ort weiter?
- Was ist mein Fortbewegungsmittel?
- Gibt es am Ziel ein besonderes Ereignis oder gar besondere Menschen, die eine über die Maßen lange Reise dennoch rechtfertigen?
- Gibt es überhaupt ein Ziel?
Im Folgenden mag ich einmal auf die einzelnen Punkte eingehen.
Reise- vs. Aufenthaltsdauer
Auch wenn wir mittlerweile gar nicht unbedingt zu Fuß reisen oder uns überhaupt bewegen, schlauchen sieben Stunden Zugfahrt doch auch irgendwie. Am Ziel angekommen ist dann womöglich gar keine Energie mehr da, um den Ort entsprechend seiner Schönheit wertzuschätzen. So geht schon ein Reisetag ins Land, ohne dass man etwas unternommen hat. Insbesondere bei beschränkter Urlaubsanzahl, wo vor allem zu Erholungszwecken verreist wird, überlege ich daher, wie erholsam diese Reise tatsächlich werden kann.
Als Faustregel veranschlage ich momentan: Höchstens zwei Stunden Fahrt, wenn ich nur eine Nacht bleibe. Sonst sollte die Aufenthaltsdauer je Stunde Reisezeit zumindest einen Tag beinhalten. Sowohl die Schwarzwaldreise als auch viele Wochenendfahrten in die Erstheimat fallen da durchs Raster. Zum Glück gibt es ja noch andere Kriterien.
Rundfahrt vs. Odysee
Es heißt ja, jede Reise ende wieder zu Hause. Doch einen kleinen Unterschied gibt es dann doch: Einfache Hin- und Rückreise oder eine längere über mehrere Zwischenstationen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich eine Stunde unterwegs bin im Wissen, am selben Tag auch wieder nach Hause zu fahren oder zur nächsten Station weiterzureisen.
Ich nutze solche Zwischenstopps insbesondere bei Bahnreisen gern, um die Fahrtlänge in kleinere, angenehme Häppchen zu unterteilen. Je nach Ticket stellt das auch kein Problem dar und ich schaue mir unterwegs noch die eine oder andere Stadt an.
Für und Wider verschiedener Fortbewegungsmittel
Neben meinen Füßen, dem Fahrrad und dem Kayak ist der Zug mein liebstes Reisefahrzeug. Abseits schöner Aussichten, Abfahrt und Ankunft in Stadtzentren sowie der Möglichkeit, sich zwischendurch im Zug die Beine zu vertreten, bringt er vor allem einen Vorteil mit sich: Ich kann die Fahrtzeit aktiv nutzen, indem ich schreibe, lese oder einfach nur meinen Gedanken nachgehe, denn ich werde gefahren. Bei Autos fahre ich gegebenfalls selbst und muss auf den Straßenverkehr Acht geben. In Bussen fühle ich mich bei längere Reisen sehr eingeengt und mein Fokus liegt eher auf all den Geräuschquellen im Fahrzeug. Beim Fliegen dämmre ich stets nach wenigen Minuten weg, muss erst den Weg zum entfernten Flughafen antreten und öde Sicherheitskontrollen über mich ergehen lassen.
Auch wenn meine bevorzugten Transportmittel nicht unbedingt die schnellsten sind, eigenen sie sich für mich womöglich besser, weil die Reisezeit nicht wirklich verlorene Zeit ist.
Besondere Ereignisse und Menschen
Klar nehme ich längere Wege in Kauf, wenn Oma Geburtstag hat. Bei besonderen Ereignissen kann es sich natürlich auch um Festivals oder das Konzert der Lieblingskünstlerin handeln. Und wer nimmt nicht gern fünf Stunden Fahrt auf sich, um einen Herzensmensch nach drei Monaten endlich wiederzusehen?
Was ist das Ziel?
Soll es wirklich ein Ort sein, oder geht es einfach nur um eine besondere Erfahrung, Erholung oder eine Weiterbildung? Manchmal gibt es auch gar kein Ziel, sondern es geht einfach nur darum, unterwegs zu sein. So denke ich mir oft, wenn ich innerhalb Berlins in einem Doppekstockbus oben ganz vorn sitze, dass ich gern einfach noch ein Stück sitzen bleiben würde, um die Fahrt zu genießen. Denn wann wird man schon mal so lang in Ruhe gelassen und hat so viele plausible Ausflüchte, warum man gerade nicht telefonieren kann, wie wenn man unterwegs ist? (OK, von Fahrkartenkontrollen sehen wir jetzt einfach mal ab…)
Ob sich eine Reise lohnt, bleibt letztlich eine Frage dessen, ob sie uns die Zeit wert ist. Meine Kriterien dienen mir dabei nur als Anhaltspunkte, um vorab zu entscheiden, ob ich eine Reise überhaupt antreten möchte oder nicht. Aber das sind ja auch nur meine Kriterien.
Wie entscheidest du, ob sich eine Reise für dich lohnt?
Alles Liebe aus dem Zug
Philipp
Susanne
13/08/2020 — 23:10
Hallo Philipp,
nachdem ich zunächst über Deine “Geleit”-Seite eingestiegen und durch das Alter der dortigen Kommentare etwas verwirrt war (das macht vermutlich das eigene Alter ;-)), schreibe ich hier zu dem aktuellen Beitrag.
Zu Deinem Foto: Erfurt, Gebäude der Bahn gleich gegenüber vom Hauptbahnhof? Jedenfalls bei traumhaft blauem Himmel.
Jede Reise hat ihre besondere Dynamik, doch oft kann man diese nicht selbst bestimmen. Eigene feste Termine, Zugverspätungen, verpasste Anschlüsse, das Wetter u.v.m…. oder auch der Wunsch, den Aufenthalt an einem bestimmten Ort zu verlängern – oder gerade nicht – bestimmen die Dauer der Reise.
Ich finde: Der Weg ist das Ziel – zwar nicht immer, aber mit zunehmendem Alter (der Kommentatorin, s.o. ;-)) immer öfter.
Das gilt zwar nicht im Flugzeug oder auf furchtbar monotonen Autobahnabschnitten, aber z.B. dann, wenn man mit dem Zug die Rheinstrecke zwischen Boppard und Bingen befährt oder mit einem (völlig unspektakulären) Regionalzug durch das ländliche Thüringen zwischen Kühnhausen (nie gehört) und Bad Langensalza (wo war das noch gleich?) bummelt, wo man in den Morgenstunden Rehe und Hasen auf den angrenzenden Feldern zum Greifen nahe hat.
Für die Reise zur Oma gilt das natürlich nicht. So lange die 96-jährige Großmutter meines Lebensgefährten noch fit und präsent ist, nehme ich für einen Besuch auch gerne eine langweilige Anfahrt in Kauf.
Viele Grüße von Susanne
Philipp
17/08/2020 — 06:02
Hallo Susanne,
schön, von dir zu lesen und vielen Dank für deine Meinung! Zum Foto: Ja, das ist in Erfurt, wohin ich vor Kurzem verreist bin.
Das sehe ich ganz ähnlich wie du! Bei Flügen und monotonen Autobahnabschnitten gibt im Grunde nur schöne Himmelsansichten zu bestaunen. Deshalb schlafe ich in beiden Fällen oft ein und verschlafe die Fahrt. Den Rhein entlang gibt es einige zauberhafte Streckenabschnitte, insbesondere im Herbst. Durch Thüringen fahre ich am liebsten in den grauen Morgenstunden, wenn der Nebel noch zwischen den Hügeln und Bergen hängt. <3
Wow, 96 ist ein stattliches Alter. Frag sie von mir gern mal nach ihrem Geheimnis. ;) Generell nehme ich für Herzensmenschen gern längere Fahrten bei kürzeren Aufenthalten in Kauf. Gerade erst habe ich die nächsten Zugtickets gebucht. Dieses Jahr wird in meinen Kreisen sehr viel gefeiert. :D Entsprechend bin ich auch das eine oder andere Mal wieder in meiner Erstheimat in Thüringen.
Lieber Gruß
Philipp