Jerusalem ist unbestritten eine der religiösesten Städte der Welt. Mich als Atheisten hat das lange Zeit nicht davon abgehalten, diese Perle trotzdem zu lieben. Doch dann lernte ich bei meiner jüngsten Exkursion dorthin, meine einst geliebte Stadt zu hassen, und wollte nur noch weg.
Korrekter Weise möchte ich sagen, dass ich natürlich nicht die gesamte Stadt auf dem Kieker hatte, sondern nur die Altstadt. Doch beginnen wir von vorn: Bei meiner Liebe für sie.
Religion und ich
Das Schöne an ihr sind für mich freilich nicht nur Klima und Topographie (Ich mag es bergig!), sondern auch das hohe Aufkommen an unterschiedlichen Kulturen, denen man hier auf kleinstem Raum begegnen kann – im Guten wie im Schlechten. Denn die Kultur in Jerusalem wurde über Jahrtausende hinweg sehr stark von Religion geprägt.
Dass ich von Religion nicht viel halte, kam hier wahrscheinlich schon oft genug zum Ausdruck. (Beispielsweise hier, da und dort. Und dann auch noch in diesem Beitrag.) Dennoch interessiere ich mich für sie, denn ich finde es inspirierend, wie andere Menschen die Welt sehen, wie der scheinbar individuelle Glauben wiederkehrend von Institutionen zum Machterhalt missbraucht wird und welchen Einfluss das bereits in der Geschichte der Menschheit hatte und auch heute noch hat.
All meines Interesses zum Trotz bin ich bisher noch keiner Religion begegnet, derer Werte ich bedingungslos hinnehmen kann. Also lehne ich sie für mich ab. Bisher war das auch kein Problem, denn ich konnte mich ihr stets erfolgreich entziehen. In Deutschland funktioniert das zumindest in Teilen, indem man austritt. In Jerusalem konnte ich ja einfach immer die Altstadt und Mea Shearim verlassen bzw. meiden – zumindest bis zu meiner letzten Exkursion.
Kein Entrinnen
Während dieser waren wir im Österreichischen Hospiz (katholisch) untergebracht. Direkt gegenüber von unserem Zimmer rief der Muezzin (muslimisch) jeden morgen zwischen 04:00 und 05:00 zum ersten Gebet und 20 Minuten später wieder, um es zu beenden. Zuvor kamen ihm lediglich all die Ultraorthodoxen (jüdisch), die während des Laubhüttenfestes jeden Morgen (oder sollte ich jede Nacht sagen?) laut singend, klatschend und tanzend an unserem Fenster vorbei stürmten, um an der Klagemauer zu beten. Unser Arbeitsplatz, eine Ausgrabungsstätte, befand sich unter einer Kirche (evangelisch) inmitten der Altstadt. Unpraktischer Weise lagen sowohl Unterkunft als auch Arbeitsplatz direkt an der Via Dolorosa, sodass wir täglich mehrere singende fundamentalchristliche Pilgergruppen zur Seite schieben mussten, um überhaupt noch am selben Tag in der Ausgrabungsstätte ankommen zu können.
So war ich von früh bis abends Religion in all ihren Extremen ausgesetzt. Tag für Tag erlebte ich passionierte Tourguides, die ihren Pilgergruppen erzählten, dass exakt an jener Stelle Jesus von Nazereth mit einem Holzkreuz auf dem Rücken zum zweiten Mal hinfiel, dabei einen Handabdruck in der Mauer hinterließ, dann aber wieder aufstand und tapfer weiter seinem Tod entgegenschritt. Tag für Tag wollte ich am liebsten laut entgegenrufen, dass es diese Stelle der Stadt vor knapp 2000 Jahren noch nicht einmal gegeben hat.
An Shmini Atzeret randalierten die Ultraorthodxen im muslimischen Viertel kurz vorm Damaskustor, schlugen gegen die Tore und Fenster von Wohnungen und Läden. Erst als die arabische Bevölkerung sich verteidigen wollte, schritten die hiesigen Sicherheitskräfte ein.
Natürlich spielt da auch meine Misophonie eine Rolle. Denn ich halte es schon für fraglich, warum man mit den eigenen Glaubenssätzen unbedingt die Ruhe aller anderen stören muss. Tut es Religion nicht auch im Privaten? Und dann tauchte plötzlich dieser gefährliche Gedanke auf:
Wenn all die Religiösen so versessen auf die Altstadt sind und meinen damit wiederkehrend Konflikte heraufbeschwören zu müssen, können sie dann nicht einfach in der Altstadt Jerusalems bleiben und den Rest der Welt mit ihrem Unfug in Ruhe lassen?
– Mein gestresstes Gehirn
Gefangen in Blasen
Den Höhepunkt stellte schließlich das Torafreudenfest dar, zu dessen Anlass es in der Altstadt ein Konzert – manche mögen es schon erahnen – direkt vor dem Hospiz gab. Leider war das in totalem Kontrast zu meinem ersten Torafreudenfest: Während damals am Strand von Tel Aviv alle Menschen, ungleich des Geschlechts oder ob einheimisch oder besuchend, alle miteinander ausgelassen getanzt hatten, fiel mir bei dem Anblick in der Altstadt etwas die Kinnlade runter.
Zuerst beobachtete ich, dass lediglich Männer vor der Bühne tanzten. Alle Frauen standen abseits an den Mauern und bewegten sich kein Stück. Die Terrasse des Hospizes offenbarte aber noch einen ganz anderen Einblick: Der Zugang zur Gasse neben der Bühne war mit einem Tuch abgehängt, hinter dem ultraorthodoxe Frauen sehr wohl tanzten – allerdings abseits und außerhalb des Blickfelds der ultraorthodoxen Männer.
Mich schockiert diese Separation und Herabstufung eines Geschlechts immer wieder, obwohl ich die Zustände in religiösen Kreisen ja zumindest schon gewöhnt sein sollte. Warum das trotzdem passiert? Wegen all der Blasen in denen wir leben. Und das betrifft die Ultraorthodoxen ebenso wie mich.
Das Prinzip von Filterblasen dank sozialer Netzwerke dürfte mittlerweile weitgehend bekannt sein. Tatsächlich tritt dieses Phänomen aber auch im analogen Leben auf. Ich umgebe mich größtenteils mit Menschen, die dieselben oder ähnliche Werte wie ich vertreten. Das erleichtert meinen Alltag ungemein. Sonst würde ich wahrscheinlich Tag für Tag Grundsatzdiskussionen führen und käme überhaupt nicht vorwärts. Oder ich würde denken wie diejenigen fünf Menschen, mit denen ich am meisten Zeit verbringe.
Wir alle leben in Blasen, ganz vielen Blasen. Während meines Austauschs war ich zunächst verwundert, wie es passieren konnte, dass die rechtspopulistischen Parteien in Israel so erfolgreich sind, wo doch scheinbar alle in meiner Umgebung links waren. Die Überraschung resultierte aus meiner politisch linken Blase aus Akademikern, Kunstschaffenden und Studierenden zur damaligen Zeit. Ein Jahr später merkte ich noch viel weniger von den alltäglichen kleinen Kämpfen, die ein Leben in Jerusalem mit sich bringt, weil ich in einem Freiwilligendienst in einem Hostel involviert war und mehr Kontakt mit Touristen als mit Einheimischen hatte.
Die Ultraorthodoxen wohnen ebenso in einer Blase für sich, denn die Stadtteile, die sie bewohnen, werden fast ausschließlich von anderen Ultraorthodoxen bewohnt. Kein Wunder also, dass sich solche veralteten Ansichten und Frauenbilder dort halten: Sie wurden ja schließlich über Jahrhunderte wiederkehrend positiv affirmiert, denn innerhalb der Blase sind sie gut angesehen und “das gehört sich so”.
Das Leben in Tel Aviv könnte nicht unterschiedlicher von dem in Jerusalem sein und stellt eine Blase für sich dar. Denn es spiegelt weder das Leben in Israel als Ganzes oder das des Nahen Ostens wider, weil der Zeitgeist der Stadt viel europäischer geprägt ist als der Rest des Landes. So gesehen, besteht unsere Welt aus viel mehr Blasen, als wir annehmen mögen. Die Idee, alle Religiösen in die Altstadt umzuziehen, ist also das genaue Gegenteil von dem, was nötig wäre. Es braucht keinen weiteren Stadtteil, in dem sie hermetisch abgeschlossen ihre Praktiken durchführen und Freigeister unterdrücken können. Es braucht mehr Austausch.
Blasen zum Platzen bringen
Freilich ist es angenehmer, mit Gleichgesinnten seine Zeit zu verbringen. Damit unterstützen wir jedoch auch, dass sich neue Blasen bilden. Es lässt sich nicht bestreiten, dass jede Diskussion mit Menschen, die stur auf ihren Ansichten beharren, ermüdend sind und als Zeitverschwendung erscheinen. Besonderes Letzteres sind sie aber nicht, im Gegenteil: Sie bewahren uns vor einem kulturellen, intellektuellen und gesellschaftlichen Stillstand, welcher durch weitere Separation noch begünstigt würde.
Unsere eigenen Blasen können wir also nur zum Platzen bringen, wenn wir sie verlassen, uns bewusst in fremde begeben und in Dialog treten. Sicherlich wird es nie gelingen, alle Blasen zu beseitigen und ehrlicher Weise kann man ja nur zugeben, dass solche Orte wie die Altstadt Jerusalems ihre Magie überhaupt erst durch diese Blasen erhalten. Aber nur durch Austausch mit Andersdenkenden erhalten wir die Chance, zumindest einige von ihnen zu piksen, um sowohl den eigenen Horizont als auch den von anderen Menschen zu weitern. Ohne bleibt unsere Zivilisation in der Vergangenheit stecken.
Welche Blasen begegnen dir im Alltag? Wie gehst du mit ihnen um? Schreib es gern in die Kommentare!
Alles Liebe
Philipp