Frühjahrsputz 2.0 – Altes neu schätzen lernen

Bei der Überschrift stellt sich freilich die Frage, wozu man als hipper, nomadisch lebender Mensch überhaupt einen schnöden Frühjahrsputz braucht. Deshalb gibt es jetzt Version 2.0 als coole orts- und zeitunabhängig Variante. Was dahintersteht und wofür eine Frühjahrsroutine gut sein soll? Lies selbst.

Bei dem Wort Frühjahrsputz schießen freilich Assoziationen wie Fensterputz, Wohnung entrümpeln, Gartenbank neu streichen und dergleichen in den Kopf. Neues Jahr, neuer Frühling, neue Frische – raus aus dem Wintermuff des alten Jahres. Stattdessen ein Neuanfang mit Ordnung, Sauberkeit und Raum zum Atmen.

Mit ortsunabhängigem Lebensstil war Frühlingsputz nie ein Thema für mich, immerhin bin ich während der letzten Jahre stets wieder umgezogen, bevor es relevant geworden wäre: Spätestens beim Auszug habe ich mich einfach von allem verabschiedet, das in meinem Rucksack keinen Platz mehr fand. Entsprechend hätte ich auch nicht damit gerechnet, dass ich überhaupt noch einmal solche Hauruck-Entrümpel-Aktionen vor mir hätte, wo ich doch so geübt im Decluttering on the go bin.

Doch weit gefehlt: Bei einer Festanstellung in Vollzeit kann das schon mal untergehen. Der letzte Umzug kam so überraschend um die Ecke, dass ich gar nicht genügend Zeit hatte, noch einmal durch meine sieben Sachen zu gehen. Entsprechend wirkt alles noch etwas improvisiert in der neuen Bleibe, obwohl ich für zumindest zwei Jahre bleiben werde. So richtig Raum, um meine Dokumente und Unterlagen aufzuräumen hatte ich noch nicht – von meinem digitalen Besitz ganz zu schweigen. Zeit also, es anzupacken!

Warum ein Frühjahrsputz gut tut

Aufgeräumt lebt es sich leichter: Alles hat seinen Platz, man verschwendet nicht unnötig Lebenszeit darauf, etwas zu suchen (Frag lieber nicht, wie oft ich in den letzten Wochen nach amtlichen Unterlagen gesucht habe!)

Wenn ich für etwas in Zukunft keinen Platz in meinem Leben sehe, gibt es auch keinen Grund, warum ich es in der Gegenwart behalten sollte. Prominentes Beispiel: Utensilien für ein Hobby, dem man sich schon so lang mal widmen wollte. Bisher war dafür kein Platz. Warum sollte sich das künftig ändern, wenn wir ihm nicht aktiv Platz schaffen? So oder so kann also etwas gehen, worum wir uns dann nicht mehr kümmern brauchen. Das können entweder besagte ungenutzte Utensilien sein oder etwas anderes, damit wir endlich Zeit haben, uns dem Wunschhobby anzunehmen.

Wenn wir nur das Wesentliche in unserem Leben behalten, fällt es leichter, den Fokus darauf nicht zu verlieren. Unnötiges lenkt nur ab und kostet sowohl Aufmerksamkeit als auch Energie, die wir ebenso gut auf die uns wichtigen Dinge im Leben investieren können. Mehr Raum und Zeit für die schönen Dinge im Leben und nur so wenig wie möglich für Notwendiges und Unangenehmes verhelfen außerdem zu mehr Zufriedenheit.

Doch was genau ist anders am Frühjahrsputz 2.0 im Vergleich zum herkömmlichen, schnöden Frühjahrsputz?

Es nützt langfristig nichts, sich einfach nur blind und wahllos von allem zu trennen, was in einem Moment im Weg steht. Deshalb gehe ich hier lieber, wie auch sonst in meinem Leben, methodisch vor. Da alles im Leben einen Namen braucht, benenne ich sie als Die IRE-Methode. Der nach einem Zug der Deutschen Bahn klingende Begriff steht für die Abkürzung Inventur – Reparatur – Entsorgung. Und das steckt dahinter:

Inventur

Am Anfang steht die Inventur als Bestandsaufnahme. Wo befinde ich mich gerade? Was belastet mein Leben? Womit bin ich unzufrieden? Das können sowohl die Ramschschublade, das E-Mail-Postfach oder Beziehungen sein. Für die jeweiligen Bereiche betrachte ich jedes Objekt einzeln und beurteile folgende Fragen:

  1. Werde ich es in absehbarer Zeit benötigen? – Das kann vor allem für amtliche Dokumente relevant werden, gilt aber ebenso für die vielen Helfer des Alltags. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen wirklichem Benötigtem und dem Irrglauben, etwas zu benötigen. Wir benötigen beispielsweise keine fünf verschiedenen Messenger, um digital erreichbar zu sein.
  2. Bereitet es mir Freude? – Nicht allem in unserem Leben geben wir einen Platz, weil wir darauf angewiesen sind. Manches sorgt auch einfach nur für unser Wohlbefinden: Die wenigsten Menschen benötigen Inline Skates, aber es macht Spaß, damit über die Straße zu brettern. Dekokram betrachte ich vor allem als Staubfänger; andere finden sowas wirklich schön.
  3. Überwiegen Nutzen oder Belastung? – Schwere Bücherkisten, die wir eigentlich nur ausräumen, um sie beim nächsten Umzug wieder einzuräumen und zu schleppen, könnten wir ebenso einer Bibliothek spenden. Sinnbildhaft gilt das auch für manche unserer Beziehungen.

Damit ich mir selbst nichts vormache, wenn ich mir diese Fragen stelle, hilft es mir, sie auch direkt mit konkreten Beispielen zu beantworten: In welcher Situation werde ich X benötigen? Wenn ich Zeit mit Y verbringe, fühle ich … Früher besaß ich eine Zuckerwattemaschine. Zu feierlichen Anlässen war sie recht nützlich, aber die Reinigung recht aufwändig und im Grunde esse ich ohnehin keinen raffinierten Zucker mehr. Also kam sie weg.

Reparatur

Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich nicht direkt gefragt habe, ob eine Sache funktionstüchtig ist. Es gibt zwei Gründe, warum für mich die Reparatur erst an zweiter Stelle kommt: Einerseits halte ich es zunächst für wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen, was die Problemzonen des Lebens sind, bevor man sich ins Handeln stürzt. Zweitens halte ich es für effizienter zu entscheiden, ob man etwas überhaupt im Leben behalten möchte, bevor man Energie investiert. Ist die Entscheidung für eine Sache dann gefallen, steht der Reparatur nichts mehr im Wege.

Für das, was ich als Reparatur beschreibe gibt es verschiedene Herangehensweisen, je nachdem, worum es sich handelt:

  • Objekte können entweder repariert oder zweckentfremdet werden, sprich: eine neue Funktion erhalten. Die Reparatur muss ich dabei nicht zwingend selbst durchführen. Oft gibt es andere Menschen, die wesentlich mehr Ahnung von der Materie haben.
  • Gewohnheiten oder Workflows, die nicht funktionieren, bedürfen oft nur kleiner Anpassungen, um wieder Platz in unserem Leben zu haben.
  • Die eigene Wohnung muss nicht alle paar Monate gewechselt werden. Manchmal genügen auch Reduktion, Umstellen von Möbeln, ein Neuanstrich oder ein Kurztrip.
  • Beziehungen müssen nicht gleich beendet werden, nur weil es mal nicht gut läuft. Oft genügt schon die Reflexion, was ich selbst für die Beziehung tun kann, und ein Gespräch, damit ich mich wieder in ihr wohl fühle.
  • Wünsche müssen nicht direkt so erfüllt werden, wie sie uns zunächst erscheinen. Oft versteckt sich dahinter ein Bedürfnis, das es kreativ zu stillen gilt.

Vor einer äquivalenten Neuanschaffung lohnt sich eine Reparatur oft um ein Vielfaches – nicht nur zwingend in finanzieller Hinsicht.

  • Bei meinem Laptop hat sich auch nach einem Displaywechsel wiederholt die Antireflex-Beschichtung gelöst. Also habe ich die besagte Beschichtung einfach vorsichtig mit einer Mundspülung entfernt (manchmal funktionieren solche seltsamen Tipps aus dem Internet tatsächlich…) und tada, plötzlich wirkt das Display brillant wie eh und je. Ist anscheinend also doch reparabel und kostet 6€ und 1,5h Arbeitsaufwand statt 400€.
  • Auf Arbeit rauben mir Dokumente, in den man alles wieder und wieder händisch ausfüllen soll, Energie, Nerven und Zeit. Deshalb passe ich sie gern an, damit sie möglichst viel automatisch machen. Das erfordert zwar initial etwas mehr Zeit, spart aber umso mehr, je häufiger ich sie im Anschluss verwende. #optimierungswahn
  • Zwei der Gründe, weshalb ich es seit mehr als einem Jahr in Berlin aushalte, sind die häufigen Wochenendausflüge, sei es zu neuen oder vertrauten Orten, sowie die Tatsache dass ich viele Ecken Berlins noch nicht kenne.
  • Es gibt immer wieder Situationen, in denen man sich auch von Freunden verletzt fühlt oder sich gegenseitig auf den Senkeln geht, obwohl man sich doch eigentlich lieb hat. Dabei sind es oft nur kleine Lapalien, die mit einem einfachen Gespräch aus der Welt geschafft werden können. Spricht man hingegen nicht darüber, stauen sich die negativen Gefühle an, bis man explodiert. Also lieber gleich darüber sprechen, wenn man sich an etwas stört.
  • Oft wünsche ich mir mehrere Brennweiten für Fotografie an meinem Handy. Da ich diese aber nicht habe, werde ich kreativ, wie ich mit nur einer Brennweite ansprechende Fotos aufnehme.

Von den emotionalen, intellektuellen und ökonomischen Vorteilen abgesehen bringt es aber noch einen weiteren: Wertschätzung. Wenn ich etwas verloren glaube, ärgere ich mich zwar zunächst, rede mir dann aber oft ein, dass es früher oder später eh so hätte kommen müssen: “War eh nicht mehr das neuste Modell…”, “Diese stupide Arbeit bestätigt nur mein Bauchgefühl: Ich sollte kündigen.”, “Hätte ich mich mal lieber nicht auf die Beziehung eingelassen, dann wäre ich jetzt auch nicht verletzt.” – So versucht zumindest mein Gehirn, mich zu manipulieren und über meine Enttäuschung hinwegzutrösten.

Wenn die Sache dann aber doch gerettet ist, spüre ich, wie mein Herz einen Sprung macht – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie mir doch wichtig und es eine gute Idee war, sie zu reparieren.

Entsorgung

Manchmal hilft aber auch die Reparatur nicht. Alles hat ein Ende und manche Wunden lassen sich nicht so einfach heilen. Dann bleibt nur noch die Entsorgung.

Was ich am Wort Entsorgung mag, ist seine Doppelbedeutung. Denn es steht nicht nur dafür, dass man sich seiner Sorgen entledigt, sondern auch, dass man sich darum sorgt, was damit im Anschluss passiert.

Auch wenn wir selbst nicht in der Lage sind, etwas zu reparieren, bekommen es womöglich andere hin. Andernfalls bleibt immer noch Recycling, wenn Wiederverwendung nicht mehr greift. Auch kaputte Datenträger können mit etwas Expertise noch gelesen werden. Nur weil wir mit einem Menschen nicht harmonieren, heißt es nicht, dass das dieser Mensch generell inkompatibel ist.

Deshalb ist die sachgemäße Entsorgung äußerst wichtig. Gegenstände können an neue freudige Besitzer.innen abgegeben werden. Vielleicht werden sie glücklich damit. Rohstoffe bedürfen fachgerechter Trennung, bevor sie dem Kreislauf überführt werden können. Daten möchten wir sicher gelöscht wissen, um Zugriffe durch Dritte zu verhindern. Auch wenn uns das Herz gebrochen wurde, möchten wir immer noch lieben können – so wie andere auch. Also ist ein respektvoller Abschied das Mindeste, was wir tun können.

Etwas einfach in die Tonne zu treten, nützt also niemandem. Wie mühselig eine vernünftige Entsorgung sein kann, vergessen wir nur leider allzuoft, wenn wir etwas anschaffen, sammeln oder beginnen. Deshalb gibt es zum Abschluss noch…

Tipps und Tricks

  1. Was wir nicht in unser Leben lassen, bereitet später keine Arbeit
    Bevor wir uns etwas zulegen, etwas Neues beginnen oder uns zu etwas anmelden, dürfen wir uns durchaus die folgende Frage stellen: Würde ich dies auch tun, wenn ich es in einer Woche wieder revidieren müsste? – Würde ich das zweite Fahrrad auch kaufen, wenn ich es in wenigen Tagen wieder zum Händler zurückbringen müsste? Würde ich mich zum Newsletter auch anmelden, wenn ich ihn nächstes Wochenende wieder stornieren müsste? Würde ich auch Zeit in diese zusätzliche Beziehung investieren, wenn ich von vornherein wüsste, dass sich unsere Wege nach kurzer Zeit wieder trennen werden?
  2. Manchmal darf es auch die Abkürzung sein
    Es gibt Dinge im Leben – hoffentlich trete ich damit niemandem zu nah –, die man auch getrost direkt entsorgen kann. Dazu gehören für mich unter anderem:
    • Kataloge und allgemeine Werbung
    • alte Programmhefte von Kinos, Festivals etc.
    • entwertete Tickets
    • Monate lang nicht gelesene Lesezeichen im Webbrowser (das findet man bei Bedarf notfalls auch wieder) ☞ Delete all
    • Glückwunschkarten
  3. Regelmäßigkeit
    Es muss nicht unbedingt eine Hauruck-Aktion im Frühjahr sein. Frühjahrsputz 2.0 geht jederzeit und am besten regelmäßig. Dann ist es kein Mammutsprojekt mehr, die Arbeit geht leichter von der Hand und man kann sich jeden Tag einen kleinen anderen Bereich im Leben vornehmen. Aus einer lästigen Aufgabe wird so eine lässige Gewohnheit.

Inspiration

Wenn du meinst, du hättest einen Frühjahrsputz gar nicht nötig, gebe ich dir gern noch ein paar Ideen mit, in welchen Bereichen du heute anfangen kannst, eine Bestandsaufnahme zu machen, ggf. zu reparieren oder direkt zu entsorgen – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Falls du gern noch einmal alles zum Ausdrucken und Abhaken hättest, gibt es hier auch einen Spickzettel für dich.

Jetzt bist du an der Reihe: Wie gestaltest du deinen Frühjahrsputz 2.0? Schreib deine Tipps gern in die Kommentare.

Alles Liebe
Philipp

2 Kommentare

Antworten

  1. Hallo Philipp,
    ja, was soll ich sagen? Ich wiederhole mich von Beitrag zu Beitrag und kann es auch dieses Mal wieder nur sagen: Was für ein toller Beitrag! Den Spickzettel habe ich mir auch gleich mal ausgedruckt.
    Durch gezwungenes Home Office und morgen startender Kurzarbeit habe ich etwas mehr Zeit und warum nicht auch Entrümpeln und putzen, statt nur Neues ausprobieren?!
    Ganz liebe Grüße,
    Nicole

    • Hallo Nicole,

      vielen Dank! Es freut mich, wenn er hilft. :)

      Es braucht ja nicht nur das eine oder das andere sein – die gesunde Mischung macht es. Gerade jetzt haben wir die Chance, all das Liegengebliebene zu erledigen.

      Lieber Gruß aus Berlin
      Philipp

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert