Alle Jahre wieder zur kältesten Zeit, sorgt die Berlinale nicht nur für volle Säle in Berlins Kinos, sondern auch ausgebuchte Verstanstaltungsräume und Hotels. Auch mich zieht es beruflich wie privat hin, nachdem die letzten Monate scheinbar auf diesen einen Moment ausgerichtet waren. Von außen betrachtet erscheint die Welt des roten Teppichs, insbesondere zum 70. Jubiläum, äußerst glanzvoll. Meine Perspektive sieht anders aus.
Die Traumwelt ist nicht nur (rosa-)rot
Einer unserer Dozenten gab uns einmal mit auf den Weg, dass es kein Wunder sei, dass Filmmenschen nur mit Delikatessen wie Champagner und Kaviar verköstigt würden: Das sei nötig, um all die Strapazen, die man im Filmgeschäft durchlebe, vergessen zu lassen. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass während all der glamourösen Feierlichkeiten, die im Auge des Publikums oft in den Vordergrund preschen, bei allen Teammitgliedern sämtliche Flüche und Verärgerungen abfallen, alle Konflikte und Streitpunkte vergessen sind, wenn plötzlich der Vorhang gelüftet wird und man sieht, dass sich all die Mühen gelohnt haben.
Sechs Monate vorher war daran noch nicht zu denken. Alle wollen auf die Berlinale, auch wenn der Zeitplan es eigentlich nicht zulässt. Trotzdem wird alles daran gesetzt, es zumindest theoretisch möglich zu machen: Bewährte Arbeitsprozesse werden zusammengestaucht, mehr Geld ausgegeben, um das augenscheinlich Unmögliche doch Realität werden zu lassen, Nachtschichten und Überstunden geschoben, damit das dann auch tatsächlich eintritt. Da steht allerdings noch gar nicht fest, welche Filme von den Programmteams der einzelnen Sektionen überhaupt genommen werden. Aber es könnte ja sein, dass es klappt. Und dann ist der Jubel (gegebenenfalls) groß.
Dabei wird von außen oft nicht wahrgenommen, dass Filmfestivals nicht einfach nur Bewegtbildkunst zelebrieren, sondern für Filmschaffende allem voran Arbeit darstellen. Vorher, wenn es um die Fertigstellung des Films und die technischen Prüfungen geht, damit die Vorführungen auch reibungslos ablaufen, ohnehin. Allerdings ist auch das Festival an sich im Grunde eine riesige Messe. Hier will man nicht nur Filme sehen, sondern vor allem gesehen werden und Geschäfte machen – egal ob man im Schauspiel, in Regie oder irgendeinem anderen Department tätig ist. All die Empfänge und Galen warten zwar mit feiner Kost auf, sollen indes aber vor allem der Kontaktpflege und -erweiterung dienen. Mit einem Film auf einem A-Festival wie der Berlinale zu laufen, hilft ungemein, für Folgeprojekte Unterstützung in der Finanzierung zu finden. Selbstverständlich möchte sich da niemand blamieren.
Arbeit und Leben sind eine Einheit
In der Filmwelt habe ich bislang noch niemanden kennengelernt, dem es gelungen wäre, Arbeit und Leben sauber zu trennen. Aus persönlicher Sicht heraus frage ich mich auch, wozu das eigentlich gut sein soll: Möchte ich wirklich ein Drittel meiner Lebenszeit einfach so abspalten? Entsprechend kann ich auch nicht einfach privat Filme auf der Berlinale schauen. Die Welt ist Dorf, die Filmwelt der Dorfplatz. Oft genug wird man unerwartet von der Seite angesprochen; man wird auch erkannt, ohne prominent zu sein.
Mein Stundenkonto ist ein Indikator dafür, wie ungesund es sein kann, das eigene Leben dem Film zu verschreiben. Damit bin ich bei Weitem nicht allein: Schauspieler.innen transformieren ihre Körper wiederkehrend in beide Extreme, um der Rolle näher zu kommen. Andere Filmschaffende haben parallel zwei Jobs, um finanziell über die Runden zu kommen. Viele Filme können überhaupt nur mit Hilfe von Förderung produziert werden. Film ist kein Einzel-, sondern Gruppenkunstwerk und könnte nicht bestehen bleiben, wenn sich nicht unzählige Menschen selbst zurücknehmen und dafür einsetzen würden.
Das sind nicht nur die Menschen, die im Abspann stehen; im Gegenteil: Ein Großteil der Beteiligten wird nie genannt, weil die Anzahl der Positionen, die im Abspann genannt werden können, so stark begrenzt ist. Selbst fünfminütige Abspänne im Kino umfassen seltenst wirklich all die vielen kleinen Räder im Getriebe.
Aus dem Vollen schöpfen
Umso dankbarer bin ich dafür, dieses Jahr von einem unserer Kunden eine Team-Akkreditierung erhalten zu haben. Die letzten drei Jahre konnte ich nicht einen einzigen Film auf der Berlinale schauen, weil ich nur für eine sehr begrenzte Zeit vor Ort und diese komplett mit Terminen gefüllt war. Heuer konnte erstmals ich aus der gesamten Fülle an Programm auswählen. Während ich bei meinen ersten Berlinale-Besuchen stets auf Restkarten angewiesen war, konnte ich dieses Jahr problemlos Karten für jeden Film, der mich interessierte, an einem separaten Schalter kostenfrei abholen. Ganz grenzenlos ging das freilich trotzdem nicht, denn meine Zeit war natürlich auch dieses Jahr viel zu knapp. Also hieß es, eine Auswahl zu treffen. Meine Tipps von vor drei Jahren kann ich dabei ohne Vorbehalte weiterhin empfehlen.
Bei der Berlinale gibt es neben dem offiziellen Programm, zahlreiche Nebenveranstaltungen, Networking-Events und exklusive Screenings, die der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben. Außerdem wird die Berlinale von Dritten als Anlass genutzt, um eigene Veranstaltungen zu ins Leben zu rufen, seien es “Berlinale-Partys”, die eigentlich gar nichts mit dem Festival selbst zu tun haben, oder kleinere Filmfestivals, die zeitgleich Kino abseits des Mainstreams ins Licht der Aufmerksamkeit rücken wollen. Egal, wofür man sich entscheidet, wird man nicht alle Veranstaltungen wahrnehmen können. So habe ich dieses Jahr wiederholt Karten verfallen und Empfänge sausen lassen, weil meine Kapazitäten schon komplett ausgelastet waren.
Mittlerweile stellt das für mich auch kein Problem mehr dar. Es wird ohnehin mehr Content erstellt, als ein Mensch in einer Lebenszeit praktisch je konsumieren könnte – und es wird immer noch mehr. Davon ist nur ein Bruchteil überhaupt sehenswert. Trotz Vorauswahl durch Programmkomitee gibt es selbst bei der Berlinale immer wieder Filme, die ich mir im Nachhinein lieber gespart hätte. Festivalprogramm ist wie eine Schachtel Pralinen: Man weiß nie, was man bekommt. Was gut ist und was nicht, liegt im Auge der Betrachtenden. Und längst nicht alles ist für alle gemacht.
Obwohl ich dieses Jahr mehrere Wettbewerbsfilme sehen durfte, werde ich das künftig bleiben lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie später im Kino laufen, ist bei ihnen am höchsten, weil sie von vornherein ein breites Publikum ansprechen. Dass sie bei einem renommierten Festival im Wettbewerb laufen wirkt unabhängig von der Qualität wie ein Katalysator. Also kann ich sie mir wenige Monate später mit meinem Kino-Abo anschauen. Die Filme der übrigen Sektionen finde ich nicht nur thematisch interessanter, sondern auch gestalterisch wesentlich wagemutiger. Allerdings bleibt hier unklar, ob sie jemals wieder in einem Kino ausgestrahlt werden werden.
Auch bei der Berlinale (oder anderen Festivals) gilt daher für mich: Fokus auf das Wesentliche – was bringt mich persönlich weiter? Den Rest kann ich getrost links liegen lassen, egal ob es sich um Filme, Empfänge oder andere Networking-Partys handelt.
Wie nimmst du die Berlinale wahr? Warst du selbst schon einmal dort? Oder lässt dich das komplett kalt? Schreib deine Meinung dazu gern in die Kommentare.
Alles Liebe
Philipp
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Tagebuch einer Großstadt.