In diesem Jahr feiert Israel sein 70-jähriges Bestehen. Ich war mit von der Partie (oder sollte ich besser Party sagen?) und habe rückblickend allem voran eines: Fragen.
Jedes Mal, wenn ich Fotos aus der Gründungszeit des Staates Israel sehe, erfüllt mich eine Mischung aus Erstaunen und Ehrfurcht bei dem Gedanken, wie wir Menschen die Welt verändern können – zum Guten, wie zum Schlechten.
Eine von Gewalt geprägte Geburt
Als Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit des Staates Israel verkündete, war bereits abzusehen, dass die arabischen Nachbarländer in der Folge den Krieg erklären würden. Zuvor stand Palästina unter britischem Mandat, denn nach dem ersten Weltkrieg sollten das Vereinigte Königreich und Frankreich dafür Sorge tragen, die von arabischen Stämmen kontrollierten Gebiete in eigenständige Staaten zu überführen. So wurden noch vor dem Staat Israel im 20. Jahrhundert Syrien, Libanon, Transjordanien und der Irak gegründet, welche allesamt zusammen mit Ägypten als Antwort auf die Staatsgründung direkt in Israel einfielen, allerdings unterlagen.
Obwohl mittlerweile immerhin mit Ägypten und Jordanien Frieden herrscht und Israel wohl zumindest verdeckt mit Saudi-Arabien kooperiert, kann noch längst keine Rede von einem liebevollem Miteinander die Rede sein. Israel wird unter anderem nach wie vor nicht von Irak, Iran, Libanon, Syrien sowie der Palästinenservertretung im Gaza-Streifen, der Hamas, anerkannt und sieht sich folglich als Staat nach wie vor bedroht.
Auf den Schultern der Bevölkerung
Davon zeugt alljährlich auch der Soldier Memorial Day, welcher direkt in den Unabhängigkeitstag übergeht und an welchem Israelis ihren Bekannten gedenken, die als Soldaten gefallen sind. Und das passiert noch immer, da (fast) alle Israelis nach der Schule zwischen zwei und drei Jahren Wehrdienst leisten und im Anschluss bis zum Alter von 40 Jahren stets als Reservisten einberufen werden können – so zumindest in der Theorie.
In der Praxis gestaltet sich das genauso wenig gerecht, wie es in Deutschland der Fall gewesen war, bevor der Wehrdienst ausgesetzt wurde. Israel wurde zwar als säkularer, sprich nicht-religiöser, Staat für Juden gegründet, jedoch hat die orthodoxe Gemeinschaft einen überverhältnismäßig hohen Einfluss auf die Tagespolitik. Beispielsweise findet seit Jahren eine Diskussion darüber statt, ob auch Orthodoxe zum Wehrdienst verpflichtet sind. Während Säkulare dem weitestgehend zustimmen, wehren sich die orthodoxen Kreise dagegen und haben nun vorgeschlagen, das Studium religiöser Texte als einen dem Wehrdienst ebenbürtigen Dienst an der Gesellschaft anzuerkennen. Nachdem dies zunächst abgelehnt worden war, gingen daraufhin Tausende Orthodoxe auf die Straße und blockierten den Verkehr in Jerusalem, um ihren Willen doch noch durchgesetzt zu bekommen.
Das ist nur ein politisches Beispiel, bei welchem in der Folge die gesamte Bevölkerung aufgrund weniger Extremisten leidet. Weitere sind die Siedlungspolitik im Westjordanland, die konsequente Forcierung von koscheren Lebensmitteln oder der non-existente öffentliche Nahverkehr, weshalb sich viele Israelis, insbesondere in ländlichen Regionen, dazu genötigt fühlen, unter hoher Steuerlast einen Pkw zu erwerben. (Ein weiterer Grund, weshalb ich dafür plädiere, dass Religion und Glaube gesetzlich als Privatangelegenheit deklariert werden.)
Auf der anderen Seite kann Israel etliche positive Errungenschaften vorzuzeigen. Es ist das einzige Land im Nahen Osten, in dem queere Menschen nicht befürchten müssen, politisch verfolgt zu werden. Mit Golda Meir gab es lange Zeit vor Margaret Thatcher oder Angela Merkel eine Frau an der Spitze der Regierung. Im Land gibt es eine unwahrscheinliche hohe Quote an innovativen Startups – und das bereits seit mehreren Dekaden. USB-Sticks, ICQ (falls das noch wer kennt…) und der LZW-Algorithmus stammen unter anderen aus Israel. Tel Aviv ist gerade einmal 109 Jahre alt und bereits zur Metropole herangewachsen. Und apropos: Israels Wälder sind zwar eher spärlich, wachsen jedoch im Gegensatz zu Europa in ihrer Summe. Wirklich beachtlich, wenn man bedenkt, dass Israel ein Wüstenstaat ist.
Brot und Spiele
Entsprechend groß ist die Freude über die bevorstehenden Feierlichkeiten. Selbstredend, dass die Bevölkerung in letzter Instanz natürlich auch für all die Spektakel aufkommt, die anlässlich des 70-jährigen Bestehens geboten werden: Feuerwerk, eine fulminante Show in Jerusalem, ein Aufgebot der israelischen Luft- und Meeresflotte, … All das kostet und ich frage mich: Muss das sein?
Bereits Wochen vorher sind die Geschäfte mit zahlreichen Dekoobjekten ausgestattet: Flaggen, aufblasbare Kriegswaffen aus der Wikingerzeit wie Hämmer und Morgensterne, Sprühschaum – allesamt im Corporate Design Israels. Jede Stadt schmückt ganze Straßenzüge mit den Landesflaggen, jedes Auto hat zumindest eine, große wie kleine Gebäude werden mit Bannern ausgestattet.
Nach einer partyreichen Nacht gibt es am nächsten Tag landesweit Flugschaus mit Maschinen aus dem Militär, von Verbündeten sowie Feuerwehr und Polizei. (So sieht das übrigens von innerhalb eines solchen Flugzeugs aus.)An Küstenstätten wird zudem sowohl von Yachtbesitzern als auch vom Staat gezeigt, was sie zu bieten haben, wenn sie mit ihren Flotten auf und abziehen. Den Leuten gefällt’s. Zu Maßen ziehen sie hinaus, verfolgen das Spektakel und halten an jedem freiem Fleck Barbecues ab.
Womöglich liegt es an meinem nicht vorhandenen Patriotismus, dass ich mich bei solchen Veranstaltungen äußerst unwohl fühle. Oder daran, dass ich in Deutschland aufgewachsen bin, an den riesigen Menschenmengen mit all ihren Geräuschen, die mich von meiner ersehnten Ruhe abhalten, oder dass ich mir was eingefangen habe und mir das Erlebte die ganze Nacht noch einmal durch den Kopf gehen lassen. So oder so bin ich froh, als der Trubel vorüber ist.
Was bleibt
Von den all den verwendeten Steuergeldern sind die für den neu eröffneten Independence Trail wohl am besten investiert. Denn der ermöglicht auch weiterhin Interessierten, anhand von zehn Stationen in der Innenstadt Tel Avivs binnen eines Kilometers die Meilensteine bis zur Ausrufung der Unabhängigkeit kennenzulernen. Ab Juni dann sogar mit App. Die übrigen Events reihen sich wahrscheinlich in die übrigen Erinnerungen an Unabhängigkeitstage ein, denn Flugschaus, Feuerwerk und Konzerte mit Tamtam gibt es jedes Jahr.
Für die nächste Zukunft bleibt in Israel vor allem viel zu tun:
- Zu viele Länder erkennen den Staat noch nicht an, entsprechend bestehen da auch keinerlei diplomatische Beziehungen. Und das liegt nicht ausschließlich am mangelnden Interesse auf der anderen Seite.
- In mehrerlei Hinsicht ist Israel eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Orthodoxe genießen viele Vorteile, obwohl sie den Staat nicht einmal als solchen anerkennen, was wiederum von der restlichen Bevölkerung kompensiert werden muss. Nach wie vor identifizieren sich viele Araber nicht als Israelis. Beides führt zu einer Spaltung der Gesellschaft.
- Obwohl die LGTB Community im Vergleich zu den Nachbarländern keine Verfolgung befürchten muss, ist sie auch nicht gleichgestellt. Es gibt keine “Ehe für alle”. Eingetragene Partnerschaften sind heterosexuellen Paaren ohne Religion vorbehalten. Eine gleichgeschlechtliche Hochzeit kann in Israel also nur nach Durchführung im Ausland anerkannt werden.
Bei mir bleiben vor allem Fragen, auf die ich immer noch keine Antwort gefunden habe:
- Warum empfinden Menschen Nationalstolz?
- Was ist nötig, um einen eigenen Staat zu gründen?
- Wie kommt es, dass wir uns als Menschen von all diesen bürgerlichen Kategorien noch nicht frei gemacht haben?
Vielleicht bin ich ja nächstes Jahr klüger.
Oder kannst du mir weiterhelfen? In jedem Fall freue ich mich sehr auf den Austausch mit dir!
Alles Liebe,
Philipp
Anna
24/04/2018 — 07:39
Oh wie immer greifst du sehr spannende Themen auf.
Zu Israel selbst äußere ich mich nicht zu Wort, das wäre vllt nicht politisch korrekt ;)
Der Begriff der Nationalstaaten ist noch relativ jung, ohne jetzt Google zu gebrauchen, glaube ich kam der erst in den letzten 250 Jahren auf. Als Österreicherin muss ich natürlich als Beispiel für die vorhergehende Struktur die Habsburger nehmen – es war Normal das es einen Herrscher gab und dem waren halt diverse Ländereien untertan, egal welche Sprache und Gebräuche diese Länder hatten. “Alles meins” war die Devise.
Durch die frz Revolution brach vieles auf – Frankreich war der erste Staat mit einem Tricolore in der Flagge und wahrscheinlich auch einer der ersten Nationalstaaten im modernen Sinn. Um Minderheiten auszumerzen und Frankreich als eine Einheit zu präsentieren wurde kurzerhand alle anderen Sprachen außer das Französisch der Île de France (=Paris + Vororte) verboten (Frankreich hat auch bis heute das entsprechende EU Dokument zur Förderung von Minderheitensprachen nie ratifiziert, es gibt bekanntlich nur ein Frankreich *hust*).
Dazu auch die Deutsche Sprache als Beispiel, dank Luther und den Brüder Grimm wurde ein einheitliches Deutsch gebildet. Davor gab es da keine klaren Kriterien, eine gemeinsame Sprache schweißt natürlich zusammen. Aber alle unter einen Dach wird man nie bekommen, daher ist der Begriff Nation eine Utopie. Ein Traumgebilde. Als Mensch muss man in kleineren Einheiten denken. Außerdem kommt dazu noch das spannende Thema Ausländerfeindlichkeit – wenn man mal beobachtet wer in Österreich als Ausländer beschimpft wird bezieht sich das hauptsächlich auf Bürger der Türkei und des Nahen Ostens. Ehemalige Länder der Kaiserkrone oder anderen Teilen der Welt wird nicht so kritisch beäugt oder gar mit Feindlichkeit begegnet – leicht hat es eh keiner in einem fremden Land und ich bewundere jeden der sich an einen anderen Ort niederlässt und gekommen ist um zu bleiben. Ich lebte 2 Jahre in Paris und war dann doch froh wieder in Österreich zu sein (wenn auch 500 km östlich meiner Heimat).
Puh ich schreibe viel ohne eigentlich auf die Fragen einzugehen. Ja ich empfinde österr. Nationalstolz (obwohl derzeit fraglich ist auf was ich zum stolz sein sollte und was Österreich zu einer Nation macht), aber ich glaube auch nur deswegen weil ich in drei verschiedenen Bundesländern für längere Zeit gewohnt habe bzw. wohne. Und ganz ehrlich, da liegen Welten dazwischen. Dennoch unterscheiden wir uns doch deutlich von den Deutschen wiederum – obwohl mir auch keiner erzählen kann das ein Münchner und ein Hamburger gleich ticken. Es ist wohl alles sehr fließend. Ein Staat muss daran arbeiten um einen Nationalstolz zu entwickeln, Österreich dachte nach dem ersten Weltkrieg das es nicht lebensfähig ist so klein und schutzlos (blablabla) und unbedingt den großen Bruder Deutschland braucht. Irgendwie wurschteln wir aber seitdem eh auch so dahin – aber es war harte Arbeit der Politik uns einzubläuen das wir eine tolle Nation sind, keinen großen Bruder brauchen zum andocken usw und so fort – wie man aus der Geschichte weiß, hat das nicht so direkt nach dem ersten Weltkrieg geklappt, es brauchte erst einen zweiten um der Meinung zu sein es ginge doch. (So ich könnte da noch ewig weiterschreiben aber ich belasse es mal so unfertig dabei)
Ich glaube wir Menschen brauchen Kategorien um uns zu orientieren. Wir sind sonst überfordert und wir wollen uns abgrenzen und hervorheben gegenüber anderen. Das Wichtigste ist aber doch immer offen zu sein und darauf zu achten das der Horizont nicht einen Radius von Null aufweist – so kann man nie über den Tellerrand blicken.
Philipp
25/04/2018 — 10:17
Hallo Anna,
vielen Dank für das Lob und deinen ausführlichen Kommentar! Du hast mir gerade Einblicke in ein paar Aspekte gegeben, die ich so noch nicht mal auf dem Schirm hatte. Die von dir angesprochene “Identitätskrise” Österreichs und die entsprechenden Schritte dagegen beispielsweise waren mir überhaupt nicht bewusst.
Ich denke persönlich lieber in Komponenten als Kategorien – zumindest rede ich mir das selbst immer wieder ein, denn das funktioniert in ruhigen Momenten besser als bei Reaktionen aus dem Affekt heraus. Vielleicht schreibe ich darüber noch mal ausführlicher, aber im Prinzip lässt sich das auch auf Identifikation mit Orten anwenden: Aufgewachsen bin ich beispielsweise im Vogtland in Deutschland, gelebt habe ich aber auch an vielen anderen Orten. Während ich in Dresden wohnte, hatte ich mich beispielweise als Dresdner bezeichnet, momentan würde ich das allerdings nicht, weil ich ja gerade in Tel Aviv – Yafo wohne. Dresden trage ich aber immer noch in mir. Ich fühle mich an vielen Orten zu Hause – das merke ich insbesondere, wenn ich an Orte wie Dresden oder München zurückkehre. Und während Kategorien tendenziell eher ausgrenzen, habe ich den Eindruck, dass Komponenten sich ergänzen und liebevoll koexistieren können. Das mag ich.
Lieber Gruß,
Philipp