Hätte ich diese Frage Anfang letzten Jahres gestellt, wäre ich wahrscheinlich von vielen fragenden Gesichtern angeschaut worden. Schließlich war doch alles normal, wie immer. 12 Monate später hat sich ein neuer Alltag breit gemacht und ich grüble darüber, ob es überhaupt möglich sein wird, zu einem Leben, wie wir es vor COVID-19 kannten, zurückzukehren.
Was ist normal?
Den Begriff der Normalität zu definieren, fällt mir seit jeher schwer. Was ist schon normal und wer legt das fest? Der Durchschnitt? Etwas, das von einem Institut als Industriestandard vorgegeben wird? Das, was die Mehrheit der Bevölkerung tut, denkt und glaubt?
Bis zum Jahr 2019 jagten mir asiatische Reisende, die in der Öffentlichkeit stets Maske trugen, einen leichten Schauer über den Rücken. Schützen sie damit andere oder sich selbst? Falls Ersteres: Warum laufen sie überhaupt draußen rum? Falls Letzteres: Wovor haben sie Angst, von dem ich nicht weiß, dass es überhaupt existiert? 2020 war das (zumindest für mich) überhaupt kein Thema mehr und empfinde ebendiese asiatischen Reisenden als verantwortungsbewusste Vorbilder und -denkende. Unser aller Alltag hat sich gewaltig verändert. Für meine Generation handelt es sich um das erste gravierende Ereignis mit gesellschaftlich relevanten Folgen.
Sehnsucht nach Vergangenheit?
Rückblickend gewinne ich den Eindruck, dass wir all die Jahrzehnte so fahrlässig gehandelt haben. Niemand sorgte sich um Hygienestandards. Scheinbar wuschen sich auch viele Menschen nicht regelmäßig die Hände. Ob der aktuellen Umstände bin ich umso erschrockener darüber, wie unbedacht auch heute noch viele Menschen handeln – sei es bei Diskussionen um Masken oder hygienischen Grundlagen. Bei jeder Freizeitaktivität frage ich mich, ob ich nicht gerade selbst zu gedankenlos, zu egoistisch, zu unvorsichtig handle.
Mir fehlt die Freizügigkeit beim Reisen von präcoronalen Zeiten. Ich vermisse die schier unbegrenzten Möglichkeiten. Doch andererseits bin ich froh über die neue Achtsamkeit und das aktuelle Bewusstsein innerhalb der Gesellschaft. Nicht zuletzt bin ich dankbar, denn, ja ich habe Einschnitte erfahren müssen, aber mir geht es gut. Ich leide nicht an existenziellen Ängsten und darin liegt bereits ein hohes Gut, das mich privilegiert.
Aus heutiger Sicht finde es schwer vorstellbar, dass wir jemals wieder ohne Masken einkaufen oder ohne gesundheitliches Attest reisen können werden. Das, was wir als Normalität betrachteten, war die goldene Ära der letzten zwei Jahrzehnte. Doch wie in allen anderen “glorreichen” Zeitaltern zuvor haben wir es übertrieben und bekommen jetzt erstmals wieder Grenzen aufgezeigt. Dieses Drops mag nicht leicht zu schlucken sein, doch wie jede andere Generation vor uns, ist es jetzt für uns an der Zeit, unsere eigenen Hürden zu überwinden.
Ein Blick in die Zukunft
Diese Pandemie wird uns sicherlich noch eine Weile begleiten. Auch wenn ein Großteil der Menschen auf der Welt geimpft würde, wird deshalb COVID-19 nicht verschwinden. Vielleicht wird es stattdessen eine weitere Krankheit wie die Grippe: Sie kann tödlich sein, für die Mehrheit der Bevölkerung wird sie das aufgrund der Immunisierung aber nicht mehr sein. Jedes Jahr wird es dann im Herbst ein Update der Impfung geben, um auch auf neue Mutationen des Virus zu reagieren: Wie wir in den letzten Wochen lernen durften, ist es recht mutationsfreudig.
Außerdem sehe ich diese Pandemie als nur eine Herausforderung von vielen, die uns aber umso deutlicher zeigt, wo unsere Schwachstellen liegen. Gerechte Verteilung, Klimaungerechtigkeit und -wandel sind nur einige davon und werden uns meines Erachtens noch viel mehr abverlangen, als auf Partys zu verzichten und unser Gesicht zu bedecken. Die Frage ist, welchen wir uns als nächstes annehmen und unsere Aufmerksamkeit schenken. Es mag erschreckend sein, doch all die Einschnitte durch Corona, haben nicht ausgereicht, die Klima- und Ressourcenbilanz der Menschheit auf +/- 0 zu bringen. Der Earth Overshoot Day wanderte zwar im Vergleich zu 2019 (das erste Mal seit 1970!) um mehrere Wochen gen Ende des Jahres, allerdings verbrauchen wir damit immer noch zu viele Rohstoffe. Wir leben weiterhin weit über unseren Verhältnissen.
Vorwärts immer, rückwärts nimmer
Eine Rückkehr zur Normalität wird es also meines Erachtens nicht geben. Stattdessen wird sich eine neue Realität entwickeln, welche zu Beginn ein wenig Eingewöhnung benötigen, schließlich aber in Fleisch und Blut übergehen wird.
Dass es die alte Normalität so nicht mehr geben kann, sieht man auch in anderen Bereichen, beispielsweise Technik: Einst war es völlig normal, mit Federkiel und Tinte auf Papier zu schreiben und Briefe zu verschicken. Später entwickelten sich andere Schreibgeräte, etwa Füllfederhalter und Schreibmaschinen , doch Briefe wurden weiterhin auf Papier verschickt. Die Institution der Post war nötig, um jede noch so kleine schriftliche Botschaft zu übermitteln. Sogar heute erhalte ich insbesondere von Firmen noch viele Nachrichten gedruckt auf Papier statt komplett digital, obwohl es möglich wäre. Für den Versand brauchen wir nicht mehr in die Postfiliale gehen, das lässt sich von überall auf der Welt mit einem Gerät in unserer Hand erledigen. Auch wenn es nach wie vor Menschen gibt, die postalische Angebote nutzen, wird es keine Rückkehr mehr zum ursprünglichen Volumen der Post geben. wer benutzt heutzutage schon noch eine Schreibmaschine? Eine verschwindend geringe Minderheit.
Im Falle von Infektionskrankheiten und im Umgang mit diesem wird sich unsere wahrscheinlich ebenfalls in der Mitte einpendeln: Manche Maßnahmen werden als wirkungslos oder irrelevant bewertet und schließlich abgeschafft werden. Andere werden uns für viele weitere Generationen begleiten. Wie jedoch unsere Normalität in Zukunft konkret aussehen wird, vermag uns nur ebendiese zu zeigen.
In welchen Aspekten wünschst du dir die alte Normalität zurück? Welche der neuen hast du bereits akzeptiert oder möchtest sogar, dass sie erhalten bleiben? Schreib deine Meinung gern in die Kommentare. Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion!
Alles Liebe
Philipp
Nicole Beßling
14/01/2021 — 08:01
Hallo Philipp,
und gleich noch ein tiefgründiger Beitrag hinterher.
Was ist schon Normalität? Ich glaube, wir sind bereits in einer “neuen Normalität” und auch diese wird sich wieder weiter entwickeln und verändern. Der Wechsel war dieses Mal bedingt durch die Pandemie einfach viel presenter und gravierender als sonst, eben nicht so schleppend.
Ich habe mich inzwischen mit den neuen Vorgaben / Regeln / Gepflogenheit ganz gut arrangiert. Die Maske stört mich tatsächlich und auf die würde ich liebend gern wieder verzichten, auch wenn ich sie gewissenhaft trage… Ansonsten wäre ich glücklich, wenn es wieder eine gewisse Kontinuität gäbe, was z.B. Einreisebestimmungen angeht. Und nicht die Ungewissheit, ob sich ggf. auch noch während der Reise für mich etwas ändert, wenn ich wiedr nach Hause komme. Es wäre ok für mich, wenn ich bei Rückkehr in Quarantäne muss, einen Test machen muss, was auch immer. Nur diese Ungewissheit finde ich schwierig.
Ebenso was die Kontakte angeht, etc. Man kann einfach absolut gar nichts mehr planen, sei es ein Familienfest, eine einfache Verabredung mit einem liebgewonnen Menschen, eine Theatervorstellung, oder anderes. Eine Gewissheit hat man aktuell leider nur für den Folgetag….
Aber ich möchte mich hier keinesfalls beschweren. Das ist meckern auf hohen Niveau. Ich denke trotz allem, dass es uns in Deutschland insgesamt noch gut geht. Ja, es gibt Einschränkungen, aber wir dürfen uns noch relativ frei bewegen. Wir können noch Freunde treffen. Andere Länder sind da viel strikter…
Lieben Gruß
Nicole
Philipp
15/01/2021 — 21:16
Hallo Nicole,
ich stimme dir zu: Im Grunde ändert sich unsere Normalität fortlaufend, wir bemerken es dieses Mal nur recht deutlich und schlagartig, wohingegen für schleichende Veränderungen wie beispielsweise durch den Einzug des Internets in Haushalte, Jahre bis Jahrzehnte vergehen. Entsprechend denken wir darüber eher mit größerem zeitlich Abstand im Rückblick nach.
Neulich sah ich ein Video, bei dem ein wegen Mordes Verurteilter befragt wurde. Die meiner Meinung nach interessanteste Frage war die nach den größten Veränderungen beim Wiedereinfinden in die öffentliche Zivilgesellschaft. Die interviewte Person gab an, dass das soziale Leben im Gefängnis wesentlich engmaschiger war. Zurück in der Freiheit nach über 15 Jahren Haft verpasste sie die Entwicklung von Smartphones völlig und war schockiert, wie isoliert Menschen inzwischen im Alltag sogar im öffentlichen Raum agieren, weil sie permanent nur noch auf den Bildschirm schauen. Im Vergleich zu dieser “kalten” Beschreibung wurde das Zusammenleben im Gefängnis regelrecht als herzlich beschrieben.
Lieber Gruß
Philipp
Philipp
15/01/2021 — 21:19
PS: Den Begriff Kontinuität finde ich in diesem Zusammenhang äußerst geschickt und treffend gewählt!
Claudia
24/01/2021 — 15:37
Hallo Phillipp,
wieder ein toller Beitrag <3 ( ich hole mal weiter aus…Ich sag nur gedankliche Tretminen ;-) Also es wird lang!)
VERÄNDERUNGEN SIND EIGENTLICH NORMALITÄT:
1.) Da wären die ANGENEHMEN Veränderungen, die zur Normalität ohne Widerspruch führen ;-) Beispiele:
Anstelle des Schreibutensils hab ich die letzten Jahre das Fahrrad gewählt :-) Vom Fahrrad mit einem großem und einem kleinem Rad ging es zum nächsten Modell mit 2 gleich großen Rädern, dann kam die Gangschaltung mit 3 Gängen… dann 7 usw. , das Rennrad als leichte Version, anstelle vom schweren Rahmen kam Carbon … zwischenzeitlich auch das Auto in seinen vielen Ausprägungen bis hin zum E Auto. Die Firmen haben sich diesen Neuerungen anpassen müssen / wollen, da jedes neue Produkt wieder Kaufanreize bot. Wer als Firma nicht mitzog und investierte, war schnell weg vom Fenster. (Heute wäre es umgekehrt, würde die Regierung strenge Gesetze zum Verzicht einiger Produkte erlassen, würden Klimaschutz und Naturschutzziele schnell umgesetzt: Nur Mogelpackungen sollten es nicht sein. Und ja es bedeutet das Muss der Umorientierung für einige Firmen, besonders im Chemie- und Automobilbereich. Reparaturfähigkeit schafft, aber an anderer Stelle neue Jobs. Dieser Wandel wird für einige hart aber wird wohl nicht zu vermeiden sein.)
Jede Generation hat sich solchen Veränderungen anpassen dürfen oder müssen. Und es gibt viele solcher Beispiele. Z.B. der Computer und das Internet ist vielen älteren Menschen immer noch ein Graus. und sie lehnen es ab. Beispielsweise auch die Waschart: Früher hat man sich nur mit Wasser und höchstens mal mit Seife gewaschen, dann Waschpaste … und dann die Duschgels und Shampoos. Früher auch alles per Hand, dann mit Waschmaschine und später sogar mit Trockner… Diese Veränderungen waren allerdings sehr verlockend und so ist man schnell wie bei den Fahrrädern auf bequemere Produkte umgestiegen.
Selbst die ältere Generation, die diese anderen nachhaltigeren Zeiten noch kannten, tun sich im Umstieg zurück schwer. Die Bequemlichkeit gibt man ungern wieder auf.
2.) Dann die UNANGENEHMEN Veränderungen, die auch zur Normalität werden ;-)
Im Älterwerden oder durch Krankheit haben wir mit erneuten Anpassungen zu recht zu kommen. Durch körperliche Einschränkungen werden Fahrräder oder selbst Rolltreppen zum Problem. Man ist gezwungen zur eigenen Sicherheit drauf zu verzichten. Oder auch die Notwendigkeit einer Brille oder Weglassen eines Nahrungsmittels bei Unverträglichkeit. So ein Verzicht oder Zwang wird dann mit Gemurre und Hadern vollzogen bis er wieder Normalität ist
Dann gab es Notzeiten wie durch Kriege wo es viele Produkte gar nicht mehr gab bzw. Nahrungsmittel grundsätzlich fehlten. Auch kann ich mich selbst noch an die autofreien Sonntage erinnern unter anderem weil ich auf der leeren B12 das Fahrradfahren gelernt habe :-D . Sie wurden uns aufgezwungen um Mineralöl einzusparen. Es hat uns allen nicht geschadet. Man hat halt im direkten Umfeld seine Freizeit zu Fuß oder oder per Rad verbracht ( regionaler ;-) ) (https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/172918/autofreier-sonntag-1973-25-11-2013 ) Selbst damals war schon klar, dass Mineralöl als Ressource uns Grenzen im Konsumverhalten und der Umwelt setzt (Club of Rome). Leider hat man damals nicht die Reißleine gezogen. Man war wohl zu sehr auf das bequeme, neue Leben nach den Kriegen aus. Es wäre wohl damals wie heute nur mit erhöhtem Widerstand umsetzbar gewesen. Das ist wie einem Kind den Lolly zu geben und ihm diesen dann nach 3 x Schlecken wegzunehmen.
VERLUST DER ANPASSUNGSFÄHIGKEIT
In seinem Leben hat der Mensch sich stets anpassen müssen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass die Menschheit immer weniger diese Fähigkeiten zur Umorientierung und Anpassung besitzt. Die heutigen Möglichkeiten einer grenzenlosen Freiheit macht ihn maßlos und unfähig. Man entscheidet sich ungern für unangenehme Wege. Anstatt wochenlang in den Süden per Rad oder Zug zu fahren, fliegt man lieber schnell dahin. Auch angekommen will man sich kaum noch selbst um die Gestaltung der Freizeitbeschäftigung und Nahrungsbesorgung kümmern. Man überlässt diese Entscheidungen und Tätigkeiten anderen. z.B. Pauschalreisen, Hotels oder Animationsprogramme. Ein Beispiel für die Heimat wäre das Zukaufen von teuren Dienstleistungen wie Putzen und Reparieren von Wohnraum, Schneeschippen, Laubfegen… (“Teuer” ist es eigentlich nicht, aber im Vergleich zum Selbermachen ist es ein unnötiger Minusposten im Geldbeutel, für den man dann zwar Freizeit hätte, aber wieder mehr arbeiten muss)
Unbequeme Anpassung wird also schon im Kleinen nicht mehr trainiert. Alles was einfach ist wird sofort gekauft und als nie wieder aufzugebender Status betrachtet. Egal wie nötig die eigene Einschränkung wäre. Es kann mir keiner weismachen, dass er nicht um die Dringlichkeit eigener Einschränkungen weiß und dass wir mit unserer Lebensweisen seit Jahrzehnten auf Kosten der Erde und anderer Generationen unsere Bequemlichkeit ausleben.
PARALLELE BESCHRÄNKUNGEN
Wie wäre es also solche autofreie Wochenenden wieder von Staatsseite einzuführen? Vielleicht auch ein minimales Notfall-Kontingent zur Handy- / Internetnutzung am Wochenende. Es würde ggfs. zu nachhaltigeren Beschäftigungen führen, oder?
ZURÜCK ZU CORONA und der CORONA CHALLENGE:
Und da sind wir wieder beim Leben mit Corona. Es hat uns zwangsläufig mal aufgezwungene, unangenehme Grenzen aufgezeigt. Grenzen, die viele nicht akzeptieren und viele nicht dauerhaft tolerieren können. Aber es hat auch Neues in diesem Rahmen möglich gemacht. (vorausgesetzt man hat sich in diesem anders bewegt) Je mehr unser Alltag außerhalb dieser Grenzen lag desto einschränkender empfand der einzelne sie. Der Wunsch zur Normalität drückt das auch aus.
Nur was war / ist diese Einschränkung im Alltag eigentlich? Nicht ständig zu konsumieren, unnötiges zu raffen, aus dem gewählten Umfeld zu fliehen… Und nicht unendlich viele Menschen zu treffen, Menschen die man auch wie Dinge angesammelt hat oder ansammeln möchte. Vielleicht auch nur um seinen Terminkalender voll zu stopfen, auf Social Medias einen gewissen Eindruck zu machen…
Ein Leben, das regionaler in kleineren Kreisen verläuft, bietet jedoch ein neues Orientieren im direkten Umfeld.
* Warum sucht man in der Entfernung die Erfüllung? Ist das wo man und wie man lebt eigentlich so unerträglich?
* Liegt diese Unzufriedenheit und das ständige Fliehen nicht auch an der städtische Anonymität, die nunmal durch Verdichtung immer krasser wird?
Durch den Zwang auf örtliche Begrenzung zeigen sich neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und für nachhaltigere Lebensformen.
* Um zu arbeiten braucht man nicht immer raus aus der Bude ( Zeit, Geld und Energie eingespart).
* Um einen Freund zu treffen braucht man nicht mit dem Auto ewig fahren (Zeit und Energie eingespart).
* Um Sport zu treiben braucht man kein entferntes oder teures Studio (Geld, Zeit udn Energie eingespart)…
* Und wenn man örtlich mal Gleichgesinnte gesucht hat, ist man überrascht wie viele es eigentlich direkt vor der Haustüre gibt.
CORONA ALS CHALLENGE DER POSITIVEN VERÄNDERUNGEN /
DIE CHANCE RAUS AUS DER ANTRAINIERTEN NORMALITÄT
Corona zeigt uns unangenehme Grenzen auf, aber auch Chancen zur Verbesserung.
Wie sagt man ein Kind muss sich auch mal langweilen dürfen, denn nur in dieser Langeweile liegt die Chance zu eigenen, neuen Lösungsmöglichkeiten. Es ist ein Prozess, der nur aus dieser Leere, Unzufriedenheit und Langeweile wirklich neu entstehen kann.
Aber man muss sich schon selbst aus dieser Situation hinaus bewegen wollen, einen Weg suchen und vor allem heute die ersten unbekannten, abenteuerlichen Schritte gehen.
Das ist wie die einzelnen 30 Tage Challenges, die vor Jahren bei Finding Sustainia angeregt wurden. Erst wenn ich 30 Tage einzelne Themen in den Alltag umgesetzt habe und gelebt habe , hab ich die zu Beginn unangenehmen Änderungen zur Normalität werden lassen. Im Alltag eingebunden war vieles Neues dann gar nicht mehr schwer und unangenehm. Es hat das Leben in vielen Dingen bereichert und man will sie gar nicht mehr missen.
Ich sehe CORONA daher als CHALLENGE zu viel mehr und als unangenehme Einschränkung empfinde ich sie auch nicht. Die große weite Welt brauche ich nicht wenn ich vor Ort im Kleinen die Welt wirklich für mich und andere verbessern kann. Also mein eigenes Handeln Wirkung zeigt.
Wenn ich aus meinen seit 2013 umgesetzten nachhaltigen Aspekten, nun die Möglichkeiten meines Stadtbezirks nutze. 1/2019 war mir z.B. das heimliche jahrelange Klauben von fremden Müll zu wenig und ich bin den Schritt in die Öffentlichkeit gegangen. Täglich hab ich Tüten gefüllt. Ab 11/2019 1x im Monat CleanUps organisiert, die dann durch Corona plötzlich einen krassen Zulauf bekamen. Für 2021 stehen nun u.a. öffentlich angelegte Blühwiesen auf dem Programm und wenn es klappt dann bekommen wir auch kostenlose Räume für nachhaltige Workshops / inspirierende Diskussionsrunden um so noch mehr Menschen für nachhaltige gemeinnützige und eigene Umsetzungen vor Ort zu begeistern.
Es ist für viele ein neuer und befriedigender Weg aus der eigentlich frustrierenden Normalität heraus, aus einer sogenannten Zwangsjacke oder aus dem Hamsterrad. Also ein Lösungsweg aus der täglichen Hetze, der täglichen Unzufriedenheit über zu wenig Freizeit durch “das und das muss ich noch tun oder kaufen” und der ewigen Sehnsucht nach mehr als 2 fernen Urlauben im Jahr, bzw. die Flucht aus dem Alltag oder dem Wohnumfeld am Wochenende. Erst wenn mir diese Zusammenhänge klarer werden und ich den Blick verändere, meine gewohnte, eigentlich doch irgendwie gehasste Normalität aufgebe und den Fokus in meinem eigenen Wirkungsbereich setze, lebe und sehe ich diese Chance zu mehr. Auch durch die CORONA Beschränkungen und die dadurch entstandene gefühlte Leere. Es ist keine Leere!
Ich hoffe, dass die Corona Beschränkungen, so blöd sie für viele sind, noch viel mehr Menschen auf diese zweite Option eines regionalen und nachhaltigem Leben stupst.
Die Zeit ist reif, wir sollten sie nutzen um mehr Menschen darin zu bestärken. Und vor allem sie als CHANCE für viele eigentlich schon längst nötige Veränderungen zu ergreifen. Heißt nicht nur Reden und Demonstrieren gehen um sie von Politikern irgendwann in der Zukunft mäßig vorgesetzt zu bekommen, sondern selbst die Möglichkeiten zum eigenen Gestalten zu suchen und die Themen sofort umzusetzen. Sie also vor Ort in immer größeren Kreisen leben. Die regionale Vernetzung durch die Corona bedingten Einschränkungen macht so unglaublich viel möglich. Es entsteht ein Wir vor Ort. Ich hätte nie gedacht, dass so viele nachhaltige Menschen in meinem direkten Umfeld leben, die gerne mehr umsetzen würden oder die sich mit ihrem Lebenswunsch irgendwie einsam und unverstanden gefühlt haben :-D
Philipp
24/01/2021 — 17:54
Hallo Claudia,
schön, von dir zu lesen! Hab vielen Dank für deine ausführlichen Gedanken zum Thema. Ich knüpfe einfach direkt mal an…
Wie schon Heraclitus von Ephesus sagte:
Natürlich fallen die angenehmen Veränderungen leichter, denn bei denen wird in unserem Gehirn stetig Dopamin ausgeschüttet – das Hormon für das schnelle Glück. Unangenehme Veränderungen sind zunächst stets mit einem Verlassen unserer Komfortzone verbunden. Entweder kämpfen wir gegen unseren inneren Schweinehund oder gegen die Veränderung – ein Kampf ist es so oder so. Da versteht man schon, warum sich viele Menschen dagegen verwehren. Allerdings entscheidet sich genau hier, ob man den Kampf gewinnt oder verliert, denn viele Veränderungen lassen sich so leicht nicht mehr rückgängig machen. Wenn man sich also komplett versperrt, hat man oft bereits von vornherein verloren. Wenn wir die Veränderung hingegen mit offenen Armen empfangen, können wir von den positiven Effekten überrascht werden.
Solch eine autofreien Sonntag fände ich äußerst spannend. In Jerusalem genoss ich es stets sehr, dass an Schabbat einfach mal Ruhe war. Da fuhren keine Autos und man hat die Straßen ganz für sich. Von den positiven Auswirkungen einer Beschränkung auf Regionalität mal ganz zu schweigen.
Was ebendiese anbelangt, bin ich zwiegespalten: Einerseits schätze und unterstütze ich Regionalität, andererseits sind meine Lebensmittelpunkte so weit verstreut, dass es mir selbst fehlt, unterwegs zu sein. Gleichermaßen genieße ich das Mehr an Zeit aufgrund der eingeschränkten Mobilität. Die richtige Mischung halte ich hier für wichtig. Aller Mobilität zum Trotz vermisse ich in unserer Welt das Langsame. Insofern betrachte ich Corona auch als Notbremse.
So eine Pandemie bringt natürlich nicht nur Negatives. Allerdings tue ich mich wegen der hohen Opferzahlen mittlerweile etwas schwer, sie als Chance zu betiteln, auch wenn ich Herausforderungen generell ob ebendieser als solche denke. Im Allgemeinen empfinde ich abgesteckte Grenzen (von territorialen mal abgesehen) als hilfreich, sei es in Hinblick auf Kreativität oder, um sich darüber klar zu werden, was man eigentlich im Leben möchte. Unbegrenzte Möglichkeiten klingen zunächst verlockend. Allzuoft verlieren wir uns aber in ihnen.
Lieber Gruß aus Berlin
Philipp