Heute wird in Deutschland der Wiedervereinigung von BRD und DDR vor 30 Jahren gedacht. Zwar habe ich selbst nie im geteilten Deutschland gelebt, aber die Spuren sind heute noch sichtbar – insbesondere in Berlin.

Womöglich weise ich eine gewisse Schwäche für Grenzgebiete auf: Während meiner Kindheit wuchs ich im Vogtland auf, einer Region, in der Bayern, Sachsen und Thüringen aufeinandertreffen. Später lebte ich in Jerusalem, einer Stadt, die mittlerweile geeint wurde, aber politisch und kulturell gespaltener ist denn je (und somit auch nach wie vor äußerst spannend). Momentan wohne ich in Berlin, ebenfalls einst geteilt und schließlich wieder vereint. Dennoch lassen sich deutlich Narben erkennen, auch wenn dort nicht notwendiger Weise ein Denkmal oder Museum errichtet wurde, die daran erinnern.

Ursprünglich wollte ich in diesem Artikel darüber schreiben, wo man in Berlin noch heute die Trennung sehen und fühlen kann. Tatsächlich lässt sich das an wenigen Punkten ausmachen:

  • Der öffentliche Nahverkehr ist in Ostberlin wesentlich stärker ausgebaut, wohingegen in Westberlin vor allem Straßen für Pkw ausgebaut wurden. Entsprechend gibt es im Westen Berlins kaum Straßenbahnen.
  • Nach der Wende waren die heruntergekommenen Stadtteile Ostberlins günstig zu mieten, weshalb dort vor allem Kunstschaffende und Studierende wohnten und zu heute hippen Vierteln machten. Entsprechend viel internationales Publikum lässt sich dort heute finden. Westberlin war vergleichsweise gestanden. In Hinblick auf das Klientel fühlt es sich auch heute noch “älter” an.
  • Schließlich wäre da noch der Städtebau insgesamt. Die Architektur und Stadtplanung Ostberlins wirkt so anders. Ich will hier bewusst gar nicht werten. Man braucht nur mal durch die Straßen gehen und spürt es einfach.

Wesentlich interessanter finde ich aber, welche Zeichen die Trennung in unserer Gesellschaft hinterlassen hat. Länder-, Stadt- und Staatsgrenzen sind freilich menschliche Hirngespinnste, die aber sehr wohl Auswirkungen auf den Alltag haben. Obwohl ich selbst nie DDR-Bürger war, wurde ich in den alten Bundesländern gelegentlich als Ossi bezeichnet, weil ich im ehemaligen Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen bin. Ebenso habe ich oft genug miterlebt, wie in ebendiesem Menschen “aus dem Westen” als arrogant, kaltherzig und kapitalistisch bezeichnet wurden – sogar von Altersgenoss.innen, die ja ebenfalls nie in der DDR gelebt haben und sich dennoch damit identifizieren.

Diese Klischees sind Quatsch, aber gewisse prägende kulturelle Unterschiede gibt es durchaus. So wurde ich beispielsweise einerseits noch mit der Mentalität der DDR aufgezogen, andererseits mit dem Luxus westlicher Kultur konfrontiert, weil plötzlich so viel im Überfluss verfügbar war. Ein Großteil der amerikanischen Popkultur der 1980er Jahre startete in meiner Heimat überhaupt erst in den 1990er Jahren so richtig durch, weshalb ich hier nach wie vor ein großes Defizit verspüre.

Nichtsdestotrotz erkenne ich mehr Einheit im Land, sie brauchte nur etwas Zeit (ein paar Jahrzehnte) und wird noch wesentlich mehr benötigen.

Vor ein paar Jahren habe ich Videoaufzeichnungen meiner Schuleinführung gesehen. Interessanter Weise sprachen im Video alle mit mehr Dialekt, als dies heute der Fall ist. Klar ist der Dialekt noch da, aber Dialekte wurden und werden stigmatisiert, besonders ostdeutsche. Zu Schulzeiten wurden sie uns sogar abgewöhnt. Dabei handelt es sich eigentlich um sprachliche Vielfalt. Doch Sprache ist nun mal nicht statisch, sondern entwickelt sich stetig weiter. Das passiert natürlich auch, wenn durch die neuen Reisemöglichkeiten zuvor getrennte Menschen in Kontakt miteinander kommen.

Verallgemeinerungen sind selten richtig oder gut. Mein Eindruck ist dem entgegen, dass viele junge Menschen aus den alten Bundesländern in die Großstädte der neuen Bundesländer gezogen sind und andersrum. Ob die Motivation dahinter lediglich mehr Gehalt oder günstigere Mieten waren, sei dahingestellt. Dennoch wird immer wieder die vorherrschende finanzielle Ungerechtigkeit zur Ansprache gebracht, wenn es um die Einheit geht. Offensichtlich existiert sie ja auch.

Doch die wirklich tiefgreifenden Unterschiede sind geschichtlicher Natur: Deutschland war schon seit jeher ein Flickenteppich aus Kleinstaaten. In geringerem, aber nach wie vor gewichtigen Ausmaß findet sich das auch im oft beschimpften Föderalismus wieder. Was einerseits einen Schutzmechanismus darstellt, wirkt sich andererseits als Innovationsbremse aus. Was hier als kulturelle Vielfalt in den Himmel gehoben wird, wird bei den gesetzlichen Feiertagen verdammt.

Tatsächlich fühle ich mich eher als Europäer als als Deutscher. So wirkt es auf mich auch befremdlich, dass die vielfältigen Kulturen unseres Kontinents als Qualitätsmerkmal hervorgehoben werden, während sie innerhalb Deutschlands wiederkehrend genutzt werden, um sich übereinander lustig zu machen.

Diversität ist immer bereichernder, nachhaltiger und stabiler als Homogenität. Daher halte ich es für das Gebot der Stunde, unsere Unterschiede willkommen zu heißen, anstatt sie vehement zu bekämpfen. Und wenn es um die Einheit der Nation geht, sehe ich unseren Staat vor allem als Verwaltungseinheit, nicht mehr und nicht weniger. Aber womöglich bin ich auch ein Jahrzehnt zu spät geboren worden, um das anders zu verstehen.