Aktuell reihen sich in puncto Interrail zwei Jubiläen aneinander: Letztes Jahr feierte das beliebte Zugticket fünfzigjähriges Bestehen. Vor fünfzehn Jahren unternahm ich selbst meine erste Interrail-Tour. Und während ich diese Zeilen schreibe, ist der 01.05.2023 und ich sitze gerade seit 05:26 im Zug auf meiner nächsten. Aus diesem Anlass möchte ich heute etwas im Nähgarn kramen und über eine für mich ganz besondere Reise berichten: Meine erste eigene ohne elterliche Aufsicht. Denn diese tätigte ich ebenfalls mit Interrail und eröffnete mir damit wortwörtlich eine ganz neue Welt.
Warnung: Dies dürfte der mit Abstand längste Beitrag meiner Bloggeschichte sein. Wem das zu lang ist, besteht die Möglichkeit, durch einen Klick hierauf zur Zusammenfassung zu gelangen.
Ursprünglich wollte ich für diesen Beitrag mein analoges Reisetagebuch nutzen, welches ich anno dazumal führte. Da dieses aber leider nicht mehr auffindbar war, bin ich gespannt, an welche Details ich mich noch erinnern kann. Doch beginnen wir von vorn…
Die Vorgeschichte
Jahrelang fuhren meine Eltern mit mir jeden Sommer nach Osttirol ins Defereggental – bis 2008. Dann entschieden sie sich dazu, mal woanders hinzufahren, nämlich ins Oderbruchtal. Darauf hatte ich jedoch weniger Lust, denn mir stand schon ein ganz anderes Reiseziel im Sinn: London.
Diesen Traum hegte ich, meiner Begeisterung für die englische Sprache und Harry Potter sei Dank, schon mehrere Jahre. Meine Hoffnung, im Rahmen der in der 11. Klasse angesetzten Studienreise endlich in die Stadt meiner Träume reisen zu können, platzte leider auch, denn aus Kostengründen wurden unser kompletter Jahrgang nach Italien geschickt. Die Reise dorthin hat mir ehrlich gesagt auch gefallen, aber Rom war eben nicht London.
Ganz allein sollte ich im rosigen Alter von 17 Jahren jedoch nicht losziehen; mein damals 16-jähriger Cousin war ebenfalls mit von der Partie. Und so grübelten wir, wie genau die Reise aussehen könnte. Vielleicht doch mal ganz weit weg nach New York City? Allerdings würde es so kurzfristig mit Reisepass und Visum schwierig werden. Und so eine lange Reisezeit für eine Woche, wo wir uns doch eh nicht mehr hätten leisten können? Oder nach Hurghada für einen Urlaub am Strand? Einen reinen Strandurlaub wollte ich jedoch nicht. Schließlich einigten wir uns auf eine Interrail-Tour, denn hiermit konnten wir alles, was wir beide wollten, verbinden:
Innerhalb von zehn Tagen würden zuerst zu meiner damaligen Lieblingsstadt London reisen. Weiter ging es nach Paris für noch mehr Metropolenerlebnis. Folgen sollte Marseilles für den Badeurlaub. Unser letzter Halt würde schließlich Straßburg werden, bevor es wieder nach Hause ging.
Gesagt, geplant führte der nächste Schritt ins Reisebüro, wo wir unsere Interrail-Tickets für damals 180€ buchten. Im Gegenzug erhielten wir in einem Zeitraum von zehn Tagen fünf Reisetage, an denen wir alle Züge innerhalb der EU nutzen durften. Lediglich für in paar TGVs in Frankreich fielen Reservierungsgebühren an, welche wir direkt im Voraus regelten. Dadurch entfiel ein wenig Spontaneität, doch viel Raum für Änderungen der Reiseroute ließ unser Zeitfenster ohnehin nicht zu. Weiter ging die Recherche zu Hause: Was wollten wir unternehmen? Was sollten wir vorab buchen? Wo werden wir übernachten? Und was sollte alles ins Reisegepäck?
Da es sich um meine erste eigene Reise handelte, brauche ich wohl kaum zu erwähnen, dass ich komplett überladen war. Getreu dem Motto Lieber haben als hätte! wappnete ich mich für alle Fälle und nahm auch ein Zelt mit, denn wer weiß? Womöglich würden wir irgendwo kostengünstig im Zelt übernachten können. Leider war das Zelt jedoch kein technisches High-End-Outdoor-Zelt, sondern ein einfaches aus dem Supermarkt. Sprich: Schwer und sperrig verpackt. Ob wir das am Ende tatsächlich noch benötigten? Außerdem dabei war eine Liste mit Anschriften für Unterkünfte in London und Paris.
Die Reise beginnt
Damals reisten wir nicht nur ohne mobiles Internet. Die Regeln für das Interrail-Ticket waren auch noch andere. So hätten wir beispielsweise für die Fahrt bis zur Grenze ein Ticket mit der Deutschen Bahn lösen müssen. Selbst mit dem inkludierten Rabatt von 25% war der Preis für uns noch zu hoch. Deshalb fuhren uns meine Eltern dankenswerter Weise nach der Arbeit acht Stunden lang nach Aachen, nur um im Anschluss wieder acht Stunden nach Hause zu fahren und direkt danach wieder auf Arbeit zu gehen. Für diese Aufopferungsbereitschaft bin ich ihnen noch heute dankbar. <3
Unsere erste Nacht verbrachten wir also am Bahnhof, denn wir wollten morgens gleich mit dem ersten Zug über die Grenze. Dieser führt uns nach Liège. Von dort ging es weiter über Brüssel und Lille nach Calais. Da der Eurostar nicht im Ticket inbegriffen war, nutzten wir stattdessen die Fähre nach Dover, die wir dank Interrail-Ticket vergünstigt bekamen. Dafür begrüßten uns auf der Fähre die legendären Kreidefelsen von Dover. Da kribbelte es schon sehr stark in meinem Bauch, denn endlich würden wir in England ankommen. Mit einem Taxi ging es in Dover vom Hafen zum Bahnhof und dort schließlich mit einem Regionalzug nach London Victoria.
London – Die Stadt meiner jugendlichen Träume
Nun hatte ich ja schon erwähnt, dass wir damals ohne mobiles Internet unterwegs waren. Und bei der Größe Londons hatten wir ehrlich gesagt keinen rechten Schimmer, wo wir uns genau befanden. Ja, öffentliche Karten halfen weiter. Doch die alphanumerischen Postleitzahlen in Großbritannien sind nicht sehr aufschlussreich, wenn man das System dahinter nicht kennt. (Aus heutiger Perspektive ergibt es mehr Sinn als das deutsche Äquivalent.) Glücklicherweise halfen uns zahlreiche Londoner*innen weiter, den Weg zu einem der vorher notierten Hostels zu finden. Hierbei fiel mir zum ersten Mal auf, dass Menschen in einer Großstadt häufig keine Straßennavigation beherrschen, sondern stets auf die Öffis verweisen, auch wenn der Weg noch so kurz sein mag. Unter kamen wir schließlich im Indian Youth Hostel. Das schwere Gepäck hinterließ deutliche Spuren an meinem Körper. Dass unser Zimmer ein Durchgangszimmer zu einem weiteren Schlafraum war, hielt uns nicht davon ab, direkt einzuschlafen, denn nach solch einem langen Tag (und der langen Nacht davor) waren wir fertig!
Am nächsten Morgen erwartete uns ein ungewöhnliches Frühstück: Reis mit einer seltsamen Erdnusspampe sowie Toast mit Marmelade. Der Name war im Indian Youth Hostel wohl auch kulinarisch Programm, nur anfangen konnten wir damit nicht so wirklich etwas. So starteten wir nur mäßig gestärkt in den Tag und sahen uns direkt nach einer anderen Bleibe um. Unterwegs machten wir jedoch noch einen für mich sehr wichtigen Halt: Wir besuchten Gleis 9¾, das Gleis, an dem laut Romanen für Harry Potter die Fahrt nach Hogwarts begann. Das lag mir besonders am Herzen, da die Buchreihe maßgeblich zu meiner Begeisterung für das Vereinigte Königreich und London beigetragen hat. Mittlerweile wurde die Fotostelle für das Gleis bereits zwei Mal verlegt und ist an ein Souvenirgeschäft angeschlossen. Entsprechend großer Rummel herrscht dort heutzutage. Damals handelte es sich noch um einen Geheimtipp für Fans.
Wir kamen im Londoner Stadtteil Bloomsbury unter und fühlten uns direkt viel wohler. Hier gab es auch das zünftige und berühmte englische Frühstück, das lange vorhielt und uns gut durch den Tag brachte.
Die brauchten wir auch, denn die nächsten zwei Tage würden wir sehr viel unterwegs sein! Zunächst einmal wollten wir die Stadt entdecken. Dafür liefen wir so viel wie möglich zu Fuß und verzichteten auf die Nutzung der Tube. Das sparte uns auch einiges an Geld. Zunächst begaben wir uns zur Themse und überquerten die Millenium Bridge zum Tate Modern und Shakespeare’s Globe Theatre. Im Anschluss liefen wir das Südufer Richtung Waterloo.
Dort erwarteten uns gleich zwei Highlights: Wir hatten vor der Reise ein Kombi-Ticket für Attraktionen in London gebucht. Dieses erlaubte uns nicht nur die Fahrt mit dem Riesenrad Millenium Eye, sondern auch Eintritt in den London Dungeon, um mehr über die dunkle Geschichte Londons zu erfahren, sowie das weltbekannte Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds, welches wir am Folgetag besuchten. Alle drei Attraktionen bewerte ich aus heutiger Sicht eher als Dinge, die man eben einmal im Leben macht, wenn sie sich ergeben. Den London Dungeon nicht mal als das, was auch damit zusammenhängt, das ich bei einer späteren Reise die London Bridge Experience probiert hatte, welche mich noch mehr überzeugen konnte. Aber damals fand ich das schon großartig!
Was mich jedoch viel stärker begeisterte und sozusagen mein fortdauernder Höhepunkt war, war die Möglichkeit, mich frei in der Traumstadt meiner Jugend ohne elterliche oder Lehraufsicht bewegen und sie entdecken zu können. Dazu trugen die Orte, die Architektur und die Menschen vor Ort viel stärker bei als touristische Attraktionen. Deshalb hat sich ein Moment, in dem wir Jugendliche in South Bank beim Skaten beobachtet haben, viel stärker in mein Gedächtnis gebrannt, als die vielen Stunden die wir bei Madame Taussauds (und in der Warteschlange davor) verbracht haben, auch wenn ich bei letzterem dutzende von peinlichen Fotos geschossen habe und vom Skate-Park kein einziges.
Ich wollte die Stadt mit allen Sinnen aufsaugen, auch beim Fish’n’Chips-Essen zwischen Tower und Tower Bridge – so viel es unsere engen Geld- und Zeit-Budgets eben hergaben. Deshalb störte es mich auch überhaupt nicht, zwischendurch einfach an einer Stelle zu verweilen und die Umgebung zu beobachten oder den Tag beim Sonnenuntergang am Trafalgar Square ausklingen zu lassen.
Apropos knappes Budget: Um Geld für Unterbringung zu sparen und möglichst viel aus dem nächsten Reisetag herauszuholen, entschieden wir uns dazu, mit einem Zug kurz nach Mitternacht weiterzureisen. Dieser fiel jedoch aus, weshalb wir nachts bei für August erstaunlich niedrigen Temperaturen und Wind an einer Bushaltestelle vor der Waterloo Station mehrere Stunden verbrachten. Denn entgegen der Bahnhöfe in Deutschland ist es in anderen Ländern nicht möglich, die gesamte Nacht dort zu bleiben, sondern man wird rausgeworfen, wie wir am eigenen Leib lernen durften. Dies sollte noch einige weitere Male Thema auf dieser Reise werden. Immerhin erlaubte uns das, noch einen Blick auf das prächtig beleuchtete Parlamentsgebäude zu erhaschen.
Je ne parle pas le français
So setzten wir die Reise erst morgens um 04:00 Uhr fort. Mir war damals schon klar, dass ich hier her wiederkommen und, wer weiß, eines Tages womöglich sogar hier wohnen würde. Vorstellen konnte ich mir das zumindest sehr gut.
Unterwegs wurden wir wiederkehrend mit Wartezeiten konfrontiert: In Dover für die nächste Fähre, in Calais für den nächsten Zug… Letztlich kamen wir erst abends in Paris an. Auf der Suche nach einer Unterkunft kamen wir bei der nächtlich erleuchteten Kathedrale Notre-Dame de Paris vorbei. Könnte es ein passenderes Willkommen geben? Ein Problem gab es jedoch: Der Zettel mit den zuvor recherchierten Unterkünften war weg. Und so begann unsere Suche erneut ins Blaue. Nur die Kommunikation auf der Suche gestaltete sich schwierig, denn mit Französisch war es weder bei meinem Cousin noch bei mir weit bestellt – schließlich hatte ich seit der siebten Klasse lediglich Latein belegt. Da half auch das Reisewörterbuch in Französisch, das uns meine Mutti mitgegeben hatte nur bedingt. Wie es das Klischee besagt, kamen wir mit Englisch nicht weiter und natürlich konnte vor Ort niemand meine mühsam zusammengeklaubten Sätze (mit höchstwahrscheinlich komplett falscher Aussprache) verstehen.
Glücklicherweise fanden wir dennoch ein Hotel. Der Rezeptionist gab sein Bestes, um mittels Mimik, Gestik und Zeichnungen verständlich zu machen, wo wir unser Zimmer fanden. Selbst wollte er die steilen, engen Treppen wohl nicht hochsteigen, denn es dauerte schon eine Viertel Stunde, bis wir es verstanden hatten und in der Zeit hätte man wohl einige Male hoch und runter laufen können. Insgesamt hätte das Hotel einem Bilderbuch entstammen können. Sogar einen französischen Balkon hatten wir – lediglich der Blick auf den Eiffelturm fehlte.
Den gönnten wir uns jedoch am nächsten Tag, denn einmal hoch auf das ikonische Wahrzeichen wollten wir schon. Um Kosten zu sparen, entschieden wir uns dazu, lediglich den letzten Abschnitt, für den es keine Treppen gibt, mit Fahrstuhl zu fahren. Dafür mussten wir etwas Wartezeit in Kauf nehmen, denn an allen vier Eingängen bildeten sich Schlangen bis zur jeweils diagonal gegenüberliegenden Ecke. Und es war heiß! Der Aufstieg der über 700 Stufen erwies sich also als kein Leichtes. Umso einladender wirkte ein Fußbad im Springbrunnen der Trocadero-Gärten, welches, wie wir schon vom Eiffelturm aus sehen konnten, von einigen Leuten in Anspruch genommen wurde. Natürlich war die Aussicht insgesamt spektakulär! Da Paris und Umgebung von der Topographie eher flach ausfallen, konnten wir entsprechend weit sehen und schon einmal die nächsten Anlaufpunkte sichten.
Selbstverständlich verschlug es uns noch zum Triumphbogen und Champs-Elysées, doch dann waren wir sowohl von der Bewegung als auch von der Hitze den ganzen Tag über ordentlich erschöpft und zogen uns ins Hotel zurück, um den Abend bei Wein (oder tranken wir in Frankreich tatsächlich aus Gewohnheit Bier?) und Baguette auf dem Balkon ausklingen zu lassen. Mir juckte es dann doch noch einmal in den Beinen und ich wollte mir die Gegend noch ein wenig bei Nacht ansehen. Allerdings fiel meine Erkundungstour ohne Navigationshilfe in der unbekannten Umgebung eher kurz aus.
Am nächsten Morgen statteten wir uns zunächst einmal mit Hüten aus. Unsere Erfahrung mit der stechenden Sonne vom Vortag lehrte es uns. Im Anschluss wollten wir noch einmal Notre-Dame sehen, denn der kurze Eindruck bei unserer Ankunft bei Nacht genügte uns nicht, immerhin handelt es sich um eine Kathedrale von Weltruhm und Schönheit gleichermaßen! Außerdem zog ein älterer Mann, der Tauben fütterte, seine Aufmerksamkeit auf sich und lud uns ein daran teilzuhaben. Daraus entwickelte sich dann ein kleines Foto-Shooting. Im Schatten der umgebenden Bäume mit der Musik um uns herum, ließ es sich so schon aushalten. Zum Abschied bedankten sich die Tauben für unsere Kekskrümel, indem sie auf meinem neuen Hut kackten.
Dann brach auch schon unser letzter Abend in Paris an und es gab noch zwei Ziele, die ich ansteuern wollte:
- Da wir nun ja nicht nach New York City gereist sind, ich aber wusste, dass das Original eines der wohl bekanntesten Bauwerke in Paris stand, wollte ich natürlich noch dort hin!
- Die Warteschlangen für das wohl berühmteste Gemälde der Welt, wollten wir zwar ob unserer kurzen Zeit in Paris nicht in Kauf nehmen. Das Louvre an sich wollten wir jedoch schon sehen.
Beides zu Fuß zu erlaufen war nach den zwei vergangenen Tagen noch einmal zehrend, aber es hat sich gelohnt! Denn die Atmosphäre an der Seine bei Sonnenuntergang war bezaubernd und so ganz nebenbei erhaschten wir noch Blicke auf den bei Nacht erleuchteten Eiffelturm, welcher wegen des Vorsitzes im Rat der Europäischen Union gar nicht wie sonst mit warmen Licht illuminiert war, sondern blau, und mit den Europäischen Sternen versehen wurde.
Jüngst durfte ich übrigens lernen, dass die Beleuchtung des Eiffelturms mittlerweile nicht gemeinfrei ist, wie das architektonische Design selbst, sondern nach wie vor dem Urheberrecht unterliegt und nicht für kommerzielle Zwecke verwendet werden darf. Zwar ist mein Blog nicht kommerziell, aber zur Sicherheit sehe ich lieber trotzdem davon ab, hier ein Foto mit Beleuchtung zu veröffentlichen. Benutzt also gern eure Vorstellungskraft!
Beim Louvre begegneten wir schließlich noch einer Gruppe feiernder Studierender, die das Paris-Gefühl komplettierte. Auch diese Nacht verbrachten wir aus Kosten- und Praktikabilitätsgründen am Bahnhof, doch dieses Mal zum Glück nicht allein. Ebenfalls am Gare de Lyon wartete Sarah aus Kanada. So hatten wir etwas Unterhaltung und konnten uns über unsere jeweiligen Reisen austauschen. Daraus sollte sich noch ein jahrelanger E-Mail-Kontakt entwickeln.
Müll, wohin das Auge reicht
Da wir den ersten Zug nach Marseilles nahmen, kamen wir bereits am Vormittag an. Leider herrschte auch vorm höchsten Sonnenstand bereits sengende Hitze. Zunächst einmal galt es, eine Unterkunft zu finden. Ob der warmen Temperaturen wollten wir jedoch erstmal ans Meer. Also gingen wir Richtung alten Hafen. Dort sahen wir nicht nur zahlreiche Boote, sondern auch direkt unseren Schlafplatz für die kommende Nacht: Am Ufer gegenüber sichteten wir eine horizontale Felsspalte unterhalb des Palais du Pharo – direkt am Meer. Immerhin kam unser Zelt, welches wir bereits seit Tagen mit uns umhertrugen noch nicht zum Einsatz! Also wollten wir probieren, ob es dort nicht möglich wäre, eine Nacht zu verbringen. Und siehe da: Es war möglich!
Der Weg dorthin erwies sich allerdings als äußerst beschwerlich. Ja, wir liefen im Grunde nur auf einer Ebene, aber es war so heiß!
Außerdem stich mir direkt ein Dorn ins Auge: Auf den Straßen lag wahnsinnig viel Müll. Im Wasser des Hafens schwamm ebenfalls überall Plastik. Ironischer Weise flogen sogar immer mal wieder Plastiktüten durch die Luft. Und nein, dies ist leider kein Scherz! So zeichnete sich bei mir auch schon ab, dass ich mit dieser Stadt wohl eher nicht warm werden würde.
Aber unsere Felsspalte war ein Traum! Das Zelt dort aufzubauen war kein Leichtes – zumindest mit Heringem Heringen. Dafür hatten Tag wie Nacht Meeresrauschen um uns herum. Viel wurde an diesem Tag auch nicht mehr, denn nach den vorangegangenen Tagen waren wir doch recht erschöpft und dies sollte der Teil der Reise sein, an dem wir faul am Strand lagen. Strand ward es an diesem Tag nicht mehr und auch für Erkundungen der restlichen Stadt blieb uns keine Energie.
Deshalb begaben wir uns am nächsten Tag erstmal zum ausgeschriebenen Strand von Marseilles. Der war wider unserer Erwartungen allerdings äußerst eng bemessen und sehr voll. Das hatten wir uns freilich etwas anders vorgestellt, aber immerhin gab es Sand.
Sehr gut im Gedächtnis blieb mir jedoch unsere Felsspalte. Viel hatten wir dort nicht, aber Sonne, Meeresrauschen und eine sanfte Brise. Letztere wehte auch meinen jüngst erstandenen Hut ins Meer. Dafür wurde die Vogelkacke, die ich auf dieser Reise anziehen zu schien wie Pech den Schwefel sanft vom salzigen Wasser entfernt. Außerdem hatten wir nach dem Trubel der beiden Metropolen in den vorangegangenen Tagen endlich etwas Ruhe. Uns störte auch niemand. Lediglich eine Dame kam in den zwei Tagen mit ihrem Hund vorbei und befand, wie mutig wir wären, diese Reise zu unternehmen und dort zu nächtigen. Sie hätte sich das nicht getraut.
Schließlich brachen wir in Marseille unser Zelt ab und gingen allem Müll zum Trotz mit einem Glücksgefühl. Dazu hat womöglich auch beigetragen, dass wir noch mit einem prächtigen Sonnenuntergang verabschiedet wurden. Die Nacht verbrachten wir wieder am Bahnhof. Entgegen unserer bisherigen Erfahrungen durften wir drin bleiben, weil wir bereits am frühen Morgen mit dem ersten Zug fahren wollten. Das bot uns Gelegenheit neben unseren eigenen auch die Batterien unserer Handys und Kamera aufzuladen.
Elsass verbindet
Am nächsten Morgen fuhren wir direkt mit dem ersten Zug nach Straßburg. Die Grenzstadt vereint nicht nur Deutschland und Frankreich aufgrund ihrer Geschichte auf besondere Weise, sondern auch Mittelalter und Moderne auf ihre eigene Art. Das erkennt man bereits am Hauptbahnhof. Während man in einem altehrwürdigen Gebäude ankommt, schreitet man über eine modern anmutende Glashülle nach draußen. Auf diese Art wird das alte Gemäuer päserviert und gleichzeitig konnte der Bahnhof an die sich verändernden Anforderungen angepasst werden.
In der Altstadt erwarteten uns allem voran krumme und schiefe Fachwerkhäuser in allen Farben und Formen. Sehr beeindruckte uns der riesige Münster, auch wenn er quasi nach wie vor unvollständig ist. Als vorbildliche Touristen statteten wir dem EU-Parlament noch einen Besuch ab. Rein kamen wir zwar nicht, dafür aber am Rundfunkgebäude des deutsch-französischen Gemeinschaftssenders arte vorbei. Insgesamt wirkte Straßburg angenehm verschlafen, aber schließlich handelte es sich ja auch um einen Sonntag.
Dass in Straßburg trotzdem etwas los sein kann, bewies uns dann noch eine etwas alternative Version einer Marschkapelle. Hier lasse ich einfach mal das Foto für sich sprechen.
Zurück ins alte Leben
Nach der abschlusswürdigen Darbietung traten wir schon mal unseren Heimweg an. Schließlich befanden wir uns in unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze und dort würden wir im Bahnhof bleiben können. Also stiegen wir in einen Zug und verließen ihn wieder bei der erstbesten Haltestelle auf deutscher Seite. So der Plan.
Kehl wirkte so wenig einladend. Der nächste Halt sprach uns auch nicht an. Der danach auch nicht. Wir waren schon kurz davor, unsere Entscheidung zu bereuen, gingen dann aber in Appenweier von Bord – und befanden ins mitten im Nirgendwo. Der Bahnhof bestand tatsächlich nur aus einem Unterstand. Aber wir hatten ja noch unser Zelt dabei!
Also fragten wir eine nette Dame, ob es in der Nähe wohl einen Zeltplatz gäbe. Sie empfahl uns dann, einfach direkt auf der Wiese neben dem Bahnhof unser Zelt aufzuschlagen und darauf zu achten, nicht versehentlich in den Bach zu fallen. Gesagt, getan bauten wir das Zelt im Dunkeln auf – dieses Mal sogar mit Heringen.
Am nächsten Morgen weckte uns nicht nur das Rauschen des Baches, sondern auch Vogelgezwitscher. Fast wie zu Hause. Mit dem nächsten Zug fuhren wir via Karlsruhe, Stuttgart, Nürnberg und Hof wieder gen Heimat. Unterwegs ließen wir die Reise Revue passieren und lauschten anderen Gesprächen, die Lust auf mehr Reisen machten.
Zurück im Vogtland wurden wir von einem kleinen Willkommens-Komitee begrüßt. Für mich vergingen die elf Tage wie im Fluge, aber unsere Eltern hatten wohl kein Auge zutun können. Um sie für kommende Reisen etwas zu beruhigen, berichteten wir bei Rostern und Rostbräteln von unserem Abenteuer. Ob das wohl die gewünschte Wirkung erzielte?
Der Rückblick im Rückblick
Ehrlich gesagt bin ich überrascht und begeistert zugleich, mit welchem Detailreichtum ich mich noch an meine erste Reise erinnern kann – auch ohne handschriftliches Reisetagebuch! Gleichzeitig bewerte ich einige Aspekte der Reise heute ganz anders als vor 15 Jahren.
Diese Reise hat mich nachhaltig geprägt, das Reisefieber in mir ausgelöst und somit auch den Stein des Anstoßes für meine nomadischen Jahre gegeben. Entsprechend liegt mir die Erinnerung an sie so sehr am Herzen, was sich gegebenenfalls auch an der einen oder anderen Stelle in der Länge dieses Beitrages bemerkbar macht.
Allerdings gibt es auch einige Aspekte der Reise, die ich heute etwas kritischer betrachte und das liegt an meinem Anspruch an das Reisen an sich, der sich im Laufe der Jahre entwickelt hat. Genau genommen sind wir damals sozusagen von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten gezogen. Das würde mir heute nicht mehr als Anreiz für eine Reise genügen, denn kultureller Austausch, Wissenstransfer und Erweiterung des Horizonts stehen für mich im Vordergrund. Haben die Besuche des London Eye, von Madame Tussauds oder des London Dungeon dazu beigetragen? Mitnichten. Haben wir die britische oder französische Kultur auch nur im Ansatz besser kennengelernt? Wohl kaum. Dafür hatten wir viel zu wenig Kontakt mit Einheimischen.
Allerdings hat es unseren Horizont ungemein erweitert, denn wir mussten uns allein in völlig fremder Umgebung zurechtfinden, uns in fremden Sprachen verständigen und haben definitiv unsere Komfortzone verlassen – auch wenn eben dieses Verlassen der Komfortzone später zu meinem Modus operandi wurde, in dem ich mich schnell wohl fühlte.
Menschen durchlaufen beim Reisen verschiedene Stadien. Und irgendwo müssen sie anfangen, um ihre sinnbildliche Reise als Reisende in Gang zu bringen, wenn sie zuvor stets sesshaft gelebt hatten. Dieser Prozess geht ein Leben lang weiter. Auch nach 15 Jahren voller Reisen ist er bei mir nicht abgeschlossen. Diese Reise hat einen Reifungsprozess in Bewegung gesetzt. Und für dieses Geschenk bin ich meiner Familie bis heute dankbar.
Wie gut erinnerst du dich noch an deine erste eigene Reise? Wie stark hat sie dich geprägt? Ich freue mich darauf, von deinen Erinnerungen zu lesen.
Alles Liebe
Philipp
Nicole
01/06/2023 — 06:08
Guten Morgen,
Wow – was für ein Erinnerungsvermögen. Und was für eine grandiose, prägende und erlebnisreiche Reise!
Meine erste Reise ohne Eltern war mit 16 Jahren mit meinem damaligen Freund auf dem Campingplatz in Schilling. Details des Urlaubs erspare ich der Öffentlichkeit, aber ich kann mich auch noch sehr gut daran erinnern und möchte die Reise nicht missen. auch wenn ich heute ganz anders Urlaub mache und auf Reisen gehe.
Beim Schreiben merke ich auch gerade…. Eigentlich war es keine Reise sondern Urlaub. Die erste richtige Reise ohne Eltern war ein Roadtrip durch die Slowakei (wenig Erinnerungen) und dann ein Roadtrip durch den Westen der USA!
Danke für deinen Anstoß mal wieder in Erinnerungen zu schwelgen.
Liebe Grüße, Nicole
Philipp
05/06/2023 — 06:27
Hallo Nicole,
vielleicht wäre die Tatsache, dass so wenige Erinnerungen haften geblieben sind, ein guter Grund, Slowenien noch mam eine Reise abzustatten? Spannend finde ich ja auch immer, wie stark sich Orte verändern.
Mit dem Westen der USAa ging es für dich aber auch direkt richtig weit weg. :D
Lieber Gruß
Philipp
Maria
05/06/2023 — 08:30
Hallo Philipp,
Danke für diesen lebhaften Bericht. Ein paar Mal musste ich schmunzeln, bei Erlebnissen wie Madame Tussaud und co. Ich habe dich ja als den heutigen Reisenden im Kopf und fand es charmant zu sehen, dass du auch mal so gestartet bist.
Vielleicht muss ich auch mal ein paar Worte über erste Reisen aufschreiben. Ich wüsste gerade nicht ganz, welche die erste ist. Zuerst fiel mir meine Reise nach Berlin ein, 2017. Die erste Reise ganz alleine. Aber auch zuvor gab es schon diverse Reisen mit Freunden, ohne Eltern. Interrail nach Frankreich mit Freundinnen nach dem Abitur oder als Teenager Besuche eines Zeltlagers, allerdings mit dem Schutz und der Organisation einer Jugendreisegruppe.
So richtig prägend war wohl wirklich Berlin 2017, als ich beschloss mich nicht mehr durch den Mangel einer Begleitung vom Reisen abhalten zu lassen und zum ersten Mal ganz alleine loszog. Es war eine Art Versuch für die Zukunft und dankenswerterweise ist er geglückt und legte den Grundstein für mein heutiges Reisen :)