Jerusalem, 09. April 2019. Wahltag in Israel. Die Stimmung schwankt zwischen Hoffnung auf Wandel und Angst davor, dass alles so bleibt, wie es ist, oder gar noch schlimmer wird.
Berlin, 10. April 2019. Ernüchterung macht sich breit. Wieder einmal hat sich nichts geändert. Und doch bangen bis zu 15.000 in Berlin wohnende Israelis um die Demokratie in ihrem Heimatland. Dabei scheint das Ergebnis schon festzustehen: Bereits seine fünfte Legislaturperiode tritt der amtierende Premierminister an – trotz mehrerer Korruptionsvorwürfe, laufender Verfahren und der angekündigten und weltweilt kritisierten Annexionspläne von palästinensischen Gebieten. Wiederkehrend gibt es Proteste gegen den Status quo. Doch auch wenn sich die Verhältnisse der Wahlergebnisse ändern, tut es die politische Realität nicht: Trotz Kopf-an-Kopf-Rennen bleibt Bibi an der Spitze.
Plan B: Auswandern
Bereits vor vier Jahren hatte ich mich gefragt, wie es dazu kommen konnte. Auch damals hatten alle um mich herum gehofft und gebangt. Genützt hat es letztlich nichts. Frustration war – zumindest in der links-künsterlisch-studentischen Blase, die mich umgab – das Einzige, was blieb. Und die Aussicht, das man ja schlimmstenfalls immer noch auswandern könne. Immerhin besitzen viele junge Israelis eine zweite europäische Staatsbürgerschaft.
In Deutschland sind die politischen Verhältnisse freilich bei Weitem nicht so drastisch. Dennoch kann ich die politische Verdrossenheit junger Israelis nachvollziehen. Denn auch in Deutschland wird die Politik vorwiegend von älteren Generationen bestimmt, weil sie zahlenmäßig überlegen sind. Auch in Deutschland hat Religion, auch wenn es eine andere ist, viel zu großen Einfluss auf das politische Geschehen. Und auch in Deutschland kann leicht der Eindruck enstehen, dass sich nichts zum Besseren wendet. Entsprechend oft habe ich bereits damit geliebäugelt, permanent auszuwandern.
Diese Taktik wird auch von zahlreichen Israelis gewählt. Auch ohne mein Netzwerk an Kontakten von zahlreichen Aufenthalten im Nahen Osten vergeht keine Woche, während derer ich kein Hebräisch auf den Straßen Berlins höre.
Für und Wider
Natürlich gibt es gute Gründe, warum man dem eigenen Heimatland den Rücken kehrt:
- Die instabile politische Situation – Zwar ist Israel ein sehr sicheres Reiseland im Nahen Osten und es bestehen mit Ägypten und Jordanien Friedensverträge, allerdings ist die Situation im Nahen Osten nach wie vor angespannt und nicht gerade von Wohlwollen geprägt. Offiziell streben unter anderem Syrien, Iran und die im Gaza-Streifen starke Hamas die Zerstörung des Israelischen Staates an. Luftangriffe sowie politisch oder religiös motivierte Attentate sorgen beständig für ein erhöhtes Sicherheitsbewusstsein. Und da alle Israelis bis zum Alter von 40 Jahren in der Reserve sind, bergen die drei Jahre Wehrdienst eine wesentlich höhere Bedeutung als man es ich in Deutschland vorstellen könnte.
- Die konservative und korrupte Politik – Abgesehen davon, dass Israel das einzige Land im Nahen Osten ist, in dem homosexuelle Partnerschaften anerkannt werden, entsteht hierzulande eher der Eindruck, man entwickle sich zurück. Davon zeugen beispielsweise die dauerhafte Bevorteilung der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaften oder die Entscheidung, Torahstudien wieder zum Pflichtfach zu erklären.An gleichgeschlechtliche Ehen ist auch hier noch nicht zu denken. Hinzukommen ein Premierminister, der sich wegen mehrerer Fälle der Steuerhinterziehung und Veruntreuung verantworten muss sowie das Unterlaufen des Parlamentes von religiösen Extremisten, die die Existenz des Staates nicht einmal anerkennen.
- Die wirtschaftliche Lage – An der Kunstakademie, die ich während meines Austauschs besuchte, wurde gern erzählt, dass die Absolventen ihr Diplom auf einem silbernen Serviertablett erhielten, um direkt im Anschluss eine Stelle als Kellner antreten zu können. Das mag bitter klingen, enthält aber einen wahren Kern: Von all denjenigen Israelis, die mir erzählt haben, dass sie ebenfalls an Bezalel studiert hätten, arbeitet nur ein Bruchteil im eigentlich studierten Kunsthandwerk. Die Löhne außerhalb von IT und Hightech kommen mit den steigenden Mieten gar nicht hinterher – natürlich locken hier Länder mit wesentlich günstigeren Lebenshaltungskosten und ansprechenderen Berufsaussichten.
Verglichen dazu lebt es sich in Deutschland dann doch recht komfortabel und sorgenfrei, auch wenn hier nicht alles perfekt ist. Hinzu kommt, dass ein fremdes Land darauf wartet, erkundet und emotional einverleibt zu werden. Wenn man das Land bereits ins Herz geschlossen hat, fällt der Schritt zur Auswanderung freilich etwas leichter. Dennoch gibt es auch hier die andere Seite der Medaille – den Grund, warum man das eigene Heimatland auf keinen Fall für immer verlassen sollte:
Man lässt alle anderen Menschen zurück.
Damit meine ich nicht nur die Liebsten. Natürlich kann man die hin und wieder besuchen. Aber alle anderen auch.
Der verlorene Kampf gegen Abwanderung
Ländliche Regionen leiden bereits global seit Jahren darunter. Jerusalem wehrt sich zwar gegen die Abwanderung junger Menschen nach Tel Aviv, doch die Auswirkungen der Abwanderung ins Ausland wird das gesamte Land zu spüren bekommen.
Entgegen der in Europa üblichen Briefwahl, können Israelis nur dann wählen, wenn sie sich im Land befinden. All die im Ausland lebenden sind damit von der Wahl ausgeschlossen. Während die Emigrierenden sich selbst also in ein hoffentlich angenehmeres Leben retten, verwehren sie sich gleichzeitig jegliche Möglichkeit, etwas an der Situation im Heimatland zu ändern. Mit Auswanderung ist also erstmal niemandem geholfen, als sich selbst.
Welch verheerenden Auswirkungen das nach sich ziehen kann, zeichnet sich bereits an Israel ab: Rechte und orthodoxe Kräfte werden noch stärker, gewinnen noch mehr Einfluss und können damit noch mehr Einfluss auf die Gesetzgebung in ihrem Interesse nehmen. Israels Premier Bibi ist abhängig von extremistischen Parteien, die strengere religionsnahe Gesetze und den Siedlungsbau fördern, denn seine relative Mehrheit allein reicht zum Regieren nicht aus. Also lockt er sie mit Zugeständnissen, stärkt ihre Privilegien. Die daraus resultierenden politischen Entscheidungen wirken sich zulasten der übrigen Bevölkerung aus, frustrieren noch stärker und führen zu noch mehr Abwanderung.
Der letzte Strohhalm
Dieser Teufelskreis ist keine exakte Vorhersage, aber eine mögliche. Doch es muss nicht alles verloren sein, denn es gibt eine Opposition, auch in Israel.
Spontan fallen mir drei mit Menschenrechten vereinbare Möglichkeiten ein, um eine liberale, progressive Mehrheit in Israel zu ermöglich:
- Nicht für immer auswandern – Während das Leben in einem fremden Land einen unvergleichlichen Zuwachs an Erfahrungen mit sich bringt, wäre es doch schade, wenn sie letztlich versanden und niemanden nützen. Eine Rückkehr in das Heimatland, um im Ausland begegnete Alternativen anzuwenden, kann eine Chance sein, damit auch die Mitmenschen von diesen Erfahrungen profitieren.
- Mehr Nachkommen zeugen – Ebenfalls eine Möglichkeit, um die politische Verteilung der zukünftigen Wählerschaft zu ändern. Israels Ultraorthodoxe leben das par excellence vor: In besagten Kreisen stellt es eine Tugend dar, viele Kinder zu zeugen, die dann natürlich vorzugsweise dieselben Interessen und Meinungen vertreten.
- Bildung – Auch hier zeigen Israels Ultraorthodoxe, welch immensen Einfluss Erziehung und akademische Ausbildung auf Wahlentscheidungen haben. Das funktioniert natürlich auch in die andere Richtung.
Auswandern ist deshalb für mich mittlerweile auch abseits meiner persönlichen Verwurzelung keine Option mehr, sondern stets mit einer Rückkehr verbunden. Zeitlich begrenzt stelle ich mir das natürlich immer noch gern vor. Für immer definitiv nicht, denn in Israel hätte ich ebenso wenig politisches Mitspracherecht wie Israelis es im Ausland genießen. Auf dieses wichtige Werkzeug zum Gestalten unserer Gesellschaft möchte ich jedoch nicht mehr verzichten.
Wie stehst du zur Auswanderung? Liebäugelst du manchmal selbst damit? Welche Hürden siehst du?
Alles Liebe
Philipp