Teilzeit auf Probe

Lange Zeit habe ich davon geträumt – plötzlich kommt sie ganz unverhofft: Teilzeit. Ein eigentümliches Konstrukt, das meines Erachtens Standard werden sollte.

Alle, die sich irgendwann mal mit ortsunabhängigem Arbeiten und digitalem Nomadentum beschäftigen, ziehen sehr wahrscheinlich auch eine Reduzierung der Arbeitszeit in Erwägung oder sind sogar davon motiviert worden. Das behaupte ich jetzt schlichtweg mal, sei es um Zeit für das Buch zu finden, das man schon immer schreiben wollte, mehr Quality Time mit den Liebsten verbringen oder um einfach nur entspannt Bäumen beim Wachsen zusehen zu können.

Ein Blick über den Tellerrand

“Normal” zu arbeiten, wird (zumindest in Deutschland) mit 40 Stunden Arbeitszeit je Woche an einem fixen Ort gleichgesetzt. Auf die Mehrheit der Bevölkerung mag das auch zutreffen. Aber wer hat bitte entschieden, dass das der Normalzustand sein soll?

Auf mich wirkt das wie reine Willkür. Wären 30 Stunden als Standard festgelegt worden, würde sich heute wohl kaum jemand darüber klagen, zu wenig zu arbeiten. Früher standen sogar mehr Wochenstunden auf dem Programm. Einer der Gründe, warum ich mich dazu entschied, nicht in Israel bei israelischen Unternehmen zu arbeiten, lag darin, dass die Arbeitswoche dort sogar 5½ Tage umfasst, also noch weniger Wochenende zulässt. Mir erscheinen 24 Urlaubstage zu gering für meine Reisepläne, doch in Israel sind es gar noch weniger. Schlimmer geht es also immer. Von Ländern des fernen Ostens möchte ich gar nicht erst anfangen.

Arbeit flexibel denken

Doch nur weil es uns besser ergeht als anderen, heißt das meines Erachtens noch nicht, dass wir jegliches Potential zur Verbesserung zur Seite schieben sollten. Daher bin ich auch der Meinung, dass wir Menschen nicht dafür ausgelegt sind, täglich acht Stunden zu arbeiten. Im Gegenteil: Wir arbeiten sogar effizienter, wenn wir weniger Zeit zur Verfügung haben.

Work expands so as to fill the time available for its completion.

Cyril Northcote Parkinson

24 Stunden in der Woche genügen meines Erachtens völlig. Schließlich gibt es im Leben ja auch noch andere wichtige Dinge, die unsere Zeit erfordern. Dafür ist jedoch erforderlich, dass wir uns vor der Erledigung von Arbeit bewusst entscheiden, wie viel Zeit wir eigentlich darauf verwenden wollen – andernfalls dehnt sich Arbeit unkontrolliert aus.

Mit meinem Ideal von 24 Stunden (oder ggf. eben auch weniger) bin ich nicht allein. Eine der Hauptmotivationen des nomadischen Lebens liegt darin, selbst entscheiden zu können, wann, wo und wie viel man arbeitet. Wenn man möchte und so richtig im Flow ist, spricht natürlich gar nichts dagegen, mehr zu arbeiten, insbesondere für Herzensprojekte. Besser wäre es jedoch, die Entscheidung läge bei jedem selbst. Davon kann zwecks finanzieller Abhängigkeit aber in vielen Fällen keine Rede sein. Heute steht man meistens vor einer Wahl: Entweder mehr Zeit oder mehr Geld – wenn man überhaupt ausreichend verdient, um über die Runden zu kommen.

Chancen erkennen und nutzen

Da ich während meines Studiums nebenbei freiberuflich gearbeitet hatte, rechnete ich eigentlich damit, dass nur noch 40 Stunden vergleichsweise viel Freizeit zuließen. Doch weit gefehlt! Ehe ich mich versah, sammelten sich mehr Überstunden an, als ich mir hätte träumen lassen, jemals wieder abbauen zu können. Das änderte sich schlagartig, als Corona zuschlug: Plötzlich hatte ich jede Menge Zeit und Möglichkeit, meine Überstunden nach und nach zu reduzieren, ehe ich in Kurzarbeit gehen würde.

Zwei Monate sind seitdem ins Land gegangen. Zu Beginn stellte es eine gewaltige Umstellung für mich dar. Mein Arbeitsvolumen reduzierte sich nicht direkt, sondern erst im Laufe der Zeit. In Kombination mit Home Office war ich allerdings begeistert davon, endlich mal ungestört am Stück arbeiten und mich in eine Aufgabe vertiefen zu können. Das erlebe ich im Büro nie. Und dann reichen weniger Stunden eben doch aus, um die gleiche Menge an Arbeit zu schaffen.

Mittlerweile habe ich mich sehr daran gewöhnt, weniger zu arbeiten. Plötzlich entsteht sehr viel Raum für Selbstreflexion, Beziehungen und private Projekte. Das genieße ich ungemein, ehrlich gesagt sogar so sehr, dass ich mir gerade gar nicht vorstellen kann, wie ich jemals wieder in “Vollzeit” funktionieren soll. Aber wer weiß? Vielleicht brauche ich das ja auch gar nicht. In jedem Fall sehe ich in der bevorstehenden Kurzarbeit einen guten Test um festzustellen, wie weit ich bereit bin, finanziellen Wohlstand gegen den größten Luxus unserer Ära einzutauschen: Zeit.

Kommst du auch gerade in den Genuss, dank Corona weniger arbeiten zu können? Wie viel Zeit würdest du in Lohnarbeit investieren, wenn du die Wahl hättest? Und warum hast du die Wahl nicht?

Alles Liebe
Philipp

4 Kommentare

Antworten

  1. Teilzeitarbeit war die beste Entscheidung meines Lebens. Kein Geld der Welt kann mir die Zeit schenken, die ich jetzt mit halber Stelle habe. Ich habe meine Ausgaben optimiert und verzichte sehr gerne auf das eigene Auto und teuren Konsum-Schnickschnack. Zeit ist für mich die wertvollste Währung. Nie wieder möchte ich darauf verzichten.

    • Hallo Gabi,

      das glaube ich dir direkt! So betrachtet erscheint es eigentlich tragisch, dass wir für all den Schnickschnack nicht nur mehr Zeit aufgeben, um es uns kaufen zu können, sondern um uns im Anschluss auch darum zu kümmern.

      Lieber Gruß
      Philipp

  2. Unterschreibe ich dir sofort ungefiltert!
    Durch Corona (wie bescheuert klingt das eigentlich?)… durch die aktuelle Situation und eingeschränkten Bewegungsfreiräumen (ok, nicht viel besser…) komme ich sowohl in den Genuss von Homeoffice als auch von reduzierten Arbeitszeiten. Während viele sich beklagen, weil weniger Geld reinkommt, genieße ich es ehrlicherweise total. Allein die gewonnene Zeit durch den fehlenden Arbeitsweg… Gold wert… seit Anfang Mai wechsel ich zwischen Büro- und Homeoffice und nutze die freie Zeit um den Nachhauseweg (ca 23km) mit dem Rad zurück zulegen. So bin ich automatisch an der frischen Luft, habe etwas für mich getan, habe mich sportlich betätigt und bin total ausgeglichen und gut gelaunt! Wenn es nach mir ginge, würde ich das gern so beibehalten… die Umsetzung in der Praxis ist jedoch aus verschiedenen Gründen eher schwierig. Nichts desto trotz merke ich auch, dass ich in weniger Arbeitsstunden mehr schaffe, bzw. effektiver arbeite, als in der “normalen” Arbeitszeit.
    Liebe Grüße, Nicole

    • Hallo Nicole,

      ich finde es immer wieder erschreckend wie viel Zeit wir für den Arbeitsweg aufbringen. Momentan schätze ich mich sehr glücklich über meinen Arbeitsweg – er hat genau die richtige Länge, um abschalten zu können, ist aber nicht so kurz, dass ich mal eben ins Büro komme, wie es vorher mit den zwei Minuten war.

      Hast du das Thema Teilzeit schon mal deinen Vorgesetzten gegenüber angebracht? Wo ein Wille ist, ist bekanntlich ein Weg. Bei mir wird es bei den nächsten Vertragsverhandlungen auf jeden Fall mit auf der Agenda stehen.

      Lieber Gruß
      Philipp

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