Ein paar Gänge runter

An einem Sonntag im April, machte sich eine Gruppe junger Männer auf, an den Teufelssee zu fahren. Ein entspannter Tag am See sollte es werden. Doch der Pannenteufel hielt sich nicht im See versteckt und der Ausflug ward zu einer Odyssee. Eine neue Episode aus “Fahrräder und Ich”, die einige Folgen mit sich brachte.

Das Gefühl von Freiheit

Die Fahrt zum See war ungemein befreiend! Was habe ich es genossen, nach Wochen der Quarantäne endlich wieder mit Herzensmenschen raus zu können! Voller Freude zogen wir mit den Rädern an den im Schritttempo fahrenden Kolonnen vorbei, ließen die Sonne und das Tempo uns be- und den Wind durch unser Haar rauschen.

Kurz vor Ankunft am See bemerkte ich ich eine Unregelmäßigkeit an meinem Reifen: Alle paar Meter blockierte er an den Bremsen. Ich nahm mir vor, es später zu prüfen und zu reparieren, doch dazu kam ich nicht mehr: Während wir die Räder über die von Gesprächen der aus Berlin Geflüchteten gefüllten Wiese schoben – in meinem Fall trug ich es, weil das Vorderrad nun vollends versperrt war – ertönte plötzlich direkt vor mir ein lauter Knall, der wie ein Pistolenschuss durch das Tal hallte. Alle Gespräche verstummten sofort, alle Blicke wanderten zu mir, meiner zum Reifen meines Vorderrads, der nunmehr schlaff auf der Felge hing.

Ist Freiheit nur eine Illusion?

Verlegen rief ich “Nur mein Reifen!”, um etwaige Verdachtsfälle auf Mordversuche mit Schusswaffen im Keim zu ersticken. Meine Freunde konnten sich vor Lachen nicht halten. In meinem Kopf lief ein Staccato an Gedanken ab:

Ein schöner Tag am See wurde es trotzdem – mit viel Lachen über das Geschehene. Der Weg zurück war erdrückend lang. Ein solch sonniger Tag begeistert zwar an der frischen Luft, doch ist in öffentlichen Verkehrsmitteln kaum auszuhalten. Doch dahin musste ich mit meinem Klotz ja auch erstmal kommen. Nach stundenlanger Rückreise, die mit dem Rad in einer halben Stunde erledigt gewesen wäre, entschloss ich mich natürlich dafür, mein Rad ein weiteres Mal zu reparieren – schließlich nutze ich es jeden Tag. Damit reihte sich die Reparatur des Vorderrads in eine lange Liste ein:

  • Unzählige platte Reifen – einen davon habe ich gerade jetzt, während ich diesen Text schreibe.
  • Apropos Reifen: Die waren nach dem Erwerb des Fahrrads schon so weit runtergefahren, dass keinerlei Profil mehr sichtbar war. Also tauschte ich sie aus.
  • Die Bedienung der 7-Gang-Schaltung zerbrach eine Tages beim Schalten. SRAM Gangschaltungen werden aber nicht mehr produziert. Also musste ich eine teure von den knapper werdenden Restbeständen erwerben, um das Rad überhaupt noch nutzen zu können. Daher die Empfehlung: Kaufe niemals SRAM!
  • Wenigen Wochen mit der neuen Gangschaltung später brach das Ritzel durch. Irreprarabel. Ersatzteile konnte ich auch online nicht finden. Also hatte ich die Wahl zwischen 300€ für ein neues mit 3-Gang-Schaltung oder 70€ für Single Speed. Da letzteres ohnehin wartungsärmer ist, war die Entscheidung schnell klar…
  • Der Schaumstoff-Sattel fing irgendwann wann, auseinander zu fallen. Also ersetzte ich den auch.
  • Das neue Ritzel sprang neulich auch aus der Fassung, “weil es scheiße ist!” (O-Ton des Fahrradgeschäftsinhabers, der es eingebaut hatte und dann noch einmal reparieren durfte.)

Insofern war die Reparatur des Vorderrads eine Nichtigkeit.

Es geht nicht mehr wie früher

Nach all den Eingriffen kann ich mit meinem Rad nicht mehr so schnell fahren, wie ursprünglich mal. Im Vergleich zu den Rennrädern meiner Freunde brauche ich immer mehr Zeit. Dafür ist mein Rad sehr bequem, wie ein Sofa, nur mobil.

Anfangs bereitete mir das einige Schwierigkeiten, wenn ich mal wieder zu viel in den Tag gepackt hatte und dann länger als gewohnt brauchte, um von A nach B zu kommen. Mittlerweile bin ich sogar über den Zwang zur Langsamkeit froh. Denn es birgt auch einige Vorteile:

  1. Wenn ich langsamer fahre, schenke ich dem Verkehr mehr Achtsamkeit.
  2. Gerade bei gemächlichem Tempo gerate ich weniger ins Schwitzen.
  3. Langsamer = mehr Genuss

Tendenziell nehme ich mir ja gern mehr vor, als ich realistisch schaffen kann. Ungeachtet dessen halte ich mich gelegentlich an einer Sache länger auf als geplant und erscheine dann zu Verabredungen zu spät. Das ist mir sehr unangenehm und durch COVID-19 noch einmal neu bewusst geworden. Denn mit dem Lockdown hatte ich plötzlich sehr viel mehr freie Zeit zur Verfügung, aber geschafft habe ich immer noch nicht alles.

Das spiegelt sich auch in meinem Habit-Tracker wieder. Ich schaffe selten jeden Tag alle Gewohnheiten, vor allem wenn ich “Vollzeit” arbeite. Denn oft bleibt es dann nicht bei acht Stunden, abends bin ich recht erschöpft und schaffe dann entweder ein Bildungs- oder ein Kreativitätsziel – wenn überhaupt. Mein Muskelgedächtnis habe ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr trainiert. Insgesamt erscheinen mir manche meiner Ziele nicht S.M.A.R.T. genug und Habit-Tracker nur bedingt geeignet. Denn, selbst wenn ich an einem Tag alle Tracker abkreuzen kann, fange ich am nächsten Morgen wieder bei Null an. Das kann schnell zu einem Hamsterrad in der Freizeit ausarten, was nicht im Sinne der Erfindung ist. Generell stellt sich die Frage, warum ich an einem Tag, an dem ich bereits viel im Büro geschafft habe, dann auch noch zu Hause schaffen möchte. Mein Leben soll nicht nur ein Abhaken von To-Do-Listen, sondern allem voran ein Genuss sein.

Raus aus dem Hamsterrad mit Reduktion

So die Einsichten meines überambitionierten Egos. Entsprechend leer war es in den letzten Wochen auch auf meinem Blog. Manchmal kommt eben einfach das Leben dazwischen. Langweilig war mir währenddessen nicht, aber andere persönlichere, kreative Projekte forderten meine Aufmerksamkeit. Wie gehe ich also künftig mit den Erkenntnissen um?

Wie mit dem Rad, werde ich wohl auch in meinen Ambitionen ein paar Gänge runterschalten. Statt mir Tagesziele zu setzen, die ich neben meinem Beruf kaum unterbringe, versuche ich mich künftig an einem wöchentlichen Rhythmus. Entsprechend passe ich meine Ziele auch ein wenig an. Das hängt einerseits damit zusammen, dass ich Raum für Spontaneität lassen möchte. Außerdem habe ich, wie mir von Herzensmenschen aufzezeigt wurde, gar kein Ziel für soziale Interaktion eingefügt. Der Grund dafür lag ursprünglich darin, dass ich eher das Bedürfnis nach mehr Zeit mit mir selbst verspürte. Letztlich führte es dazu, dass ich mich in meiner Freizeit stets entscheiden musste: Ziele erreichen oder Zeit mit den Liebsten verbringen.

Schließlich genoss ich früher insbesondere meinen Schabbat sehr: Ein Tag ganz ohne Pläne, Telefon, Termine oder Verpflichtungen. Stattdessen einfach in den Tag hineinleben. Das wollte ich mir einmal wöchentlich gönnen. In der Realität bereitete es mir mehr Stress, alles andere in sechs statt sieben Tagen fertig zu bringen, nur um diesen einen Tag von allem anderen freihalten zu können. Oft stauten sich die freien Tage dann auf, doch ich war der festen Überzeugung, dass ich mir doch Tage freihalten müsste. Doch darin steckt das Problem: Der Zwang. Also ließ ich von dieser Idee los.

Freilich brauche ich regelmäßig Erholung. Natürlich möchte ich meine Ziele erreichen und Zeit mit meinen Liebsten verbringen. Aber zu viel (Selbst-)Zwang ist definitiv nicht gesund für mich. Ich meine, hier einen verheerenden Glaubenssatz in mir entdeckt zu haben. Nämlich mich anstrengen zu müssen, um meine Ziele zu erreichen.

Man muss gar nichts im Leben – außer sterben.

Sprichwort

Tatsächlich ist die Frage, warum es immer anstrengend sein soll, wenn es doch auch leicht sein kann, warum wir gern Dinge verkomplizieren, wenn auch so einfach sein darf und wieso wir immer alles schnell haben wollen, wenn wir doch so viel besser daran tun, die Fahrt zu genießen.

Ich schalte diesen Sommer ein paar Gänge runter.

Und du?

Alles Liebe
Philipp

2 Kommentare

Antworten

  1. Wenn das Fahrrad nochmal zusammen krachen sollte: Könnte das hier was für dich sein? 19€/Monat https://swapfiets.de/offer/berlin

    • Hallo Gabi,

      danke für den Tipp! Darüber habe ich auch schon häufiger nachgedacht, weil diese Räder gerade überall in Berlin zu sehen sind, einen soliden Eindruck erwecken und das Angebot recht verlockend klingt. Ich werde Ende des Jahres mal eine Aufstellung machen, wie viel Geld ich tatsächlich in das Rad gesteckt habe. Denn 228€ im Jahr sind ja auch eine Menge – insbesondere über mehrere Jahre gerechnet. Wenn man sich dann dazu entscheidet, das Rad wieder abzugeben, hat eben auch nichts mehr davon, wohingegen man ein eigenes Rad wenigstens noch verkaufen kann, falls es nicht vorher gestohlen wurde. :P

      Lieber Gruß
      Philipp

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert