Mut zur Lücke

In meinem Gedächtnis gibt es zahlreiche Erinnerungen aus meiner Jugendzeit, in denen sich im Zusammenhang mit der Schulbildung wiederkehrend über diese drei Worte echauffiert wurde. 13 weitere Jahre waren nötig, damit ich mich traue, diese Philosophie selbst im Alltag anzuwenden, und kann nun sagen: Wer den Mut aufbringt, wird reichlich belohnt.

Seit einiger Zeit bahnt sich nach Minimalismus ein neuer Trend im Internet an: Essentialismus. Während in der deutschsprachigen Blogosphäre die Debatte über Minimalismus längst über den materiellen Besitz hinausgewachsen ist, wird im nordamerikanischen Raum eine klare Grenze gezogen, dass sich Minimalismus deutlich mit Besitz und der Frage, was man persönlich braucht, auseinandersetzt. Essentialismus orientiert sich in diesem Fall nicht an der antik-philosophischen Definition, sondern beschränkt sich auf Immaterielles und stellt die Frage, warum man etwas tut.

Egal, ob man dafür zwei verschiedene Begrifflichkeiten benötigt, teilen beide eine Gemeinsamkeit – den Fokus auf das Wesentliche. Entsprechend resultiert auch eine gewisse Schnittmenge beider Themenwelten. Beispielsweise kann ich bei sozialen Netzwerken zweifeln, warum ich dieses oder jenes Konto besitze und ob ich sie brauche. Ebenso kann ich jedoch hinterfragen, warum ich soziale Netzwerke überhaupt nutze und ob sie mein Leben bereichern. Das Ergebnis vermag dasselbe zu sein.

Natürlich gibt es zum neuen Phänomen auch Literatur. Ratgeberseiten im Internet empfehlen schon eine Weile, Lücken zu lassen. Gedruckt ist der populärste Vertreter wohl Essentialism: The Disciplined Pursuit of Less vom Führungs- und Geschäftsstrategen Greg McKeown. Meines Erachtens kommt dieses Thema gerade zur rechten Zeit auf. Nachdem Minimalismus zumindest in Hinblick auf Besitztümer längst ein Modetrend geworden zu sein scheint und mittlerweile zunehmend mehr Wohnungen und Häuser im globalen Norden wenigstens eine Zeit lang von unnötigen Gerümpel befreit wurden, sind meiner Beobachtung nach viele Menschen noch immer von all der Menge an Tätigkeiten im Alltag überwältig, denen sie sich widmen – mich eingeschlossen.

Jahrelang habe ich mich von ungenutztem Besitz getrennt und mich mit neuem schwer getan, weil ich mich diesen Ballast nicht weiter mit durch mein Leben und um die Welt schleppen wollte. Dabei versteckte sich ein Großteil meines psychischen Ballastes eher in all den Aufgaben, die ich mir selbst auferlegte oder schlichtweg nie hinterfragte. Warum habe ich das? begleitete mich ständig, doch Warum tue ich das? kam nie auf. Viel Zeit habe ich mich damit beschäftigt, wie ich mehr Dinge in meinen 24 Stunden am Tag unterbringe, habe geplant und geplant, schließlich versucht, das Planen zu reduzieren. Doch die naheliegende Lösung, schlichtweg weniger zu tun, wollte ich wohl nie so recht wahrhaben.

Stattdessen fühlte ich mich wie ein Lehrkörper, der versucht, im ohnehin schon zu kurzen Schuljahr trotzdem allen Stoff durchzunehmen, egal wie gut die Klasse ihn letztlich verstanden hat. Wenn ich bei meinen Routinen etwas nicht schaffte, versuchte ich stets, das am nächsten Tag aufzuholen. Wenn es in einer Woche mit meinem vorsätzlich freien Tag nicht klappte, wollte ich in der darauffolgenden Woche eben zwei solche Tage ganz frei von Plänen umsetzen. So baute ich mir immer mehr Druck auf, doch mich glücklicher oder mein Leben besser machte es nicht. Bis jetzt.

Denn letztes Jahr erkannte ich für mich noch einmal neu, dass die Zeit nicht stehen bleibt und ich nunmal nicht in einem Vakuum lebe. Die Erde dreht sich weiter und ich tue gut daran, ebenso wie sie den vergangenen Tag nicht nur bildlich, sondern wortwörtlich hinter mir zu lassen. Es geht darum, mich frei zu machen von dem, was in der Vergangenheit nicht geklappt hat, und den Blick mit neuem Fokus nach vorn zu richten. Wenn ich zuletzt in der mir gegebenen Zeit nicht alle Vorhaben geschafft habe, wäre es töricht, anzunehmen, dass es in der Zukunft klappt, wenn die Rahmenbedingungen dieselben bleiben.

Also nehme ich Anpassungen vor und sortiere künftig rigoros Tätigkeiten aus. Das betrifft nicht zuletzt viele meiner selbst etablierten Rituale. Teilweise “trackte” ich mich zu Tode, maß Quoten, weil ich bestimmte Dinge wollte, ohne zu hinterfragen, wofür. Den Plan für den Tag zerlegte ich kleinteilig wie ein 10.000-teiliges Mosaik und ward am Ende von mir selbst enttäuscht. Bei all meinen Zielen wollte ich so viele Projekte gleichzeitig fortschreiten lassen, dass viele davon keinen Meter vorwärts kamen. Nun lasse ich Projekte einfach weg, fokussiere mich auf ein Ziel nach dem anderen. Alles andere kommt auf die Warteliste oder in meinen mentalen Mülleimer.

Das betrifft aktuell auch oben genanntes Buch, welches ich bis heute nicht gelesen habe, obwohl ich wollte. Denn das Prinzip lässt sich tatsächlich in einem Blogbeitrag zusammenfassen und bisher fand ich offensichtlich keine Motivation, meine ohnehin schon rare Freizeit damit zu verbringen, noch tiefer in die Materie einzusteigen. Zunächst einmal wollte ich das Prinzip überhaupt anwenden. Getreu meinem Jahresmotto Jeder Moment zählt habe ich mich also insbesondere im Januar darin geübt, Tätigkeiten aus meinem Alltag zu streichen. Seitdem schaffe ich zwar nicht mehr Dinge, doch ich bekomme wortwörtlich mehr fertig. Am Ende des Tages fühle ich mich besser, ausgeglichener und vollkommener. Deshalb kann ich wärmstens empfehlen, sich zu trauen. Lass mal was weg. Wer wagt, gewinnt auch hier.

Wenn du so ähnlich tickst wie ich, mag nun womöglich die Frage aufkommen, wie ich denn zwischen Tätigkeiten, die mir wichtig sind, und denen, die ich bedenkenlos streichen kann unterscheide. Wer hier schon eine Weile mitliest, erinnert sich mit Sicherheit daran, wie viel ich immer unternehmen möchte. Tatsächlich fällt mir das Weglassen auch nicht leicht, denn mit meiner aktuellen Lohnarbeit bleibt schlichtweg nicht ausreichend Zeit für all die Aktivitäten, die mir wichtig sind. Wenn ich die mir wichtigen und schönen Aktivitäten streiche und mich nur auf das Wesentliche fokussiere, bleibt schnell nichts mehr außer Lohnarbeit. Und was für ein Leben ist das denn bitte? Verdient es dann überhaupt noch diesen Titel?

Hilfestellung bei Zweifeln

In meinem Fall ist der Knackpunkt, dass ich seit Ende meines Studiums beziehungsweise Beginn meines Angestelltendaseins meine anderweitigen Interessen nicht mehr gut mit dem Arbeitsalltag in Einklang bringen kann. Das fiel mir vorher wesentlich leichter. Nur weil ich nun 40+ Stunden wöchentlich mit der Lohnarbeit verbringe, heißt das jedoch nicht, dass die anderen Interessen sich in Luft aufgelöst haben. Das führte langfristig dazu, dass ich begann, Arbeitszeit von meiner Lebenszeit zu separieren. Früher versperrte ich mich vehement gegen diese Ansicht, doch je mehr sich meine Lohnarbeit ausdehnte und von meinen übrigen Interessen entfernte, desto weniger war ich gewillt, in der übrigen Zeit ebendiese aus meinem Leben zu streichen.

Mittlerweile befinde ich mich an einem Punkt, an dem es mir nicht möglich ist, meine Lohnarbeit in ihrem vollem Umfang, die Notwendigkeiten des Alltags und meine Interessen in der mir gegebenen Zeit unterzubringen. Solang also meine aktuelle berufliche Situation bestehen bleibt, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Rotstift anzusetzen. Diese Veränderung braucht aber Zeit und geht nicht von heute auf morgen.

Bei unseren Freizeitaktivitäten verhält es sich gewissermaßen wie mit Bekanntschaften: Für wie viele Freundschaften haben wir wirklich Zeit? Wie viele Menschen bezeichnen wir als unsere Freund*innen, obwohl es sich im Grunde um bloße Bekanntschaften handelt? Und wie viele Interessen/Aktivitäten bezeichnen wir als unsere Hobbys, obwohl wir kaum Zeit in sie investieren?

Folgende Gedankenanstöße haben mir dabei geholfen, es dennoch umzusetzen:

  • Es kommt immer etwas dazwischen. Wer den Terminkalender zu voll stopft riskiert entsprechend von vornherein, dass dieser explodiert, sobald sich eine Änderung ergibt. Das vergleiche ich gern mit einer Straßen, auf der Autos eng an eng in Reih und Glied mit konstanter Geschwindkeit fahren. Sobald ein Auto bremst, fahren alle anderen auf, weil sie keinen Sicherheitsabstand eingehalten haben.
  • Außerdem sind es auch solche Menschen, die immer zu spät kommen. (Da spreche ich aus eigener Erfahrung.) Menschen, die immer zu spät kommen, mag aber niemand. (Auch da spreche ich aus eigener Erfahrung.)
  • Außerhalb meiner Lohnarbeit muss ich nichts mehr leisten. Immerhin leiste ich während meiner Arbeitszeit auch schon genug. Alles andere tue ich, weil ich es möchte.
  • Erholung geschieht genau in den Momenten, in denen man sich anders verhält, als während der Lebensenergie verzehrenden Zeiten. Wenn ich also auch meine geringfügige Freizeit mit Aktivitäten zuplane, erhole ich mich nicht, sondern setze den Stress der Arbeit einfach nur fort.
  • Zu guter Letzt: Die schönsten Dinge des Lebens lassen sich nicht planen, sondern passieren genau dann, wenn man gerade nichts zu tun hat. Ist der eigene Terminkalender hingegen rund um die Uhr komplett gefüllt, bleibt eben kein Raum für diese schönen Dinge. Dazu gehören unter anderem: Muse, Spontaneität und Sex (um nur drei zu nennen…)

Es ist ein Prozess

Leicht fiel und fällt mir die Umstellung auch bis heute nicht. Noch immer neige ich dazu, meinen Alltag auf Naht zu stricken. Auch hier handelt es sich um einen Lernprozess, bei dem ich mich Stück für Stück entwickle. Doch die Früchte, die ich bis jetzt schon geerntet habe, zeigen mir, dass es sich lohnt, dranzubleiben und nicht in alte Muster zurückzufallen. Denn insgesamt fühle ich mich zufriedener und weniger gestresst. Das hilft mir, zumindest so weit zu überbrücken, bis ich meine Arbeitssituation zufriedenstellend verändert und mehr freie Zeit zur Verfügung habe.

Wenn sonst gar nichts mehr hilft, kann man natürlich auch auf Regeln zurückgreifen, um nicht zu den alten Verhaltensweisen zurückzukehren. Hier sind nur drei zur Anregung:

  1. Halbiere den Umfang deiner Freizeit im Kopf, bevor du Pläne für sie schmiedest. Dann beantwortet man die Frage, ob etwas in einer bestimmten Zeit möglich ist, unter Umständen schon anders.
  2. Trag sämtliche Vorhaben mit Zeitumfang in deinen Kalender ein, um ihnen auch wirklich Raum zu geben. Alle Vorhaben sollten entsprechend einen Termin haben, selbst wenn es sich dabei um einen Termin mit dir selbst handelt. Lasse zwischen den Terminen jeweils eine halbe Stunde Luft, wenn sie am selben Ort stattfinden. Plane bei Ortswechseln mindestens eine halbe Stunde zusätzlich ein – je nach Entfernung sogar mehr.
  3. Setze dir bei einer Lohnarbeitszeit von 40+ Stunden je Woche nicht mehr als einen Termin außerhalb deiner Arbeit pro Tag. Mehr ist ohnehin nicht drin.

Der wichtigste Tipp zum Schluss

Weine nicht um die Vergangenheit. Wenn es mal nicht geklappt hat, habe ich auch nichts davon, noch mehr Zeit darauf zu vergeuden, über den Misserfolg betrübt zu sein. Ebenso wenig nützt es mir, Einträge in meinem Journal für vergangene Tage, an denen ich nicht zum Schreiben kam, nachzuholen. Was vorbei ist, ist vorbei. Die Zeit dafür bekommen wir nicht zurück!

Nun interessiert mich: Wie viel Mut zu Lücken hast du? Teile es gern in den Kommentaren.

Alles Liebe
Philipp

4 Kommentare

Antworten

  1. Frau DingDong

    10/05/2022 — 19:04

    Mut zur Lücke ist mein Lebensmotto, denn so lern ich immer wieder dazu! Und wenn ich was nich weiß, guck ich irgendwo nach. Und ja, seit ich dieses Jahr “Niksen” als Motto ausgerufen habe, gelingt mir mehr als früher als ich noch so viel geplant habe. Jetzt gibts Tage und Wochen ganz ohne To Do Liste und das ist auch völlig okay. Erstaunlich!

    • Hallo Cloudy,

      ja, die Erfahrung mache ich auch, wobei ich noch nicht ganz so weit bin wie du. Ich maßregele mich in dem, wie viel ich mir für einen Tag vornehme, aber so ganz ohne Plan komme ich auch nicht zurecht. 🙈

      Lieber Gruß
      Philipp

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